Zwischenruf

"Man sieht nur mit dem Herzen gut ..."

Emma Lipka, Studentin, über das 8. Gebot, "Du sollst nicht lügen!"

"Du sollst nicht lügen", so wird das achte der zehn Gebote in der Bibel normalerweise übersetzt. Und ich muss schon sagen - es ist eigentlich gar nicht so einfach, sich daran zu halten. Die kleinen Notlügen, die sicher jeder Mensch irgendwann einmal verwenden muss, um aus einer schwierigen Situation herauszukommen oder anderen zu helfen, sind nur ein Beispiel dafür, wie leicht man das achte Gebot brechen kann - ohne Böses zu wollen. Aber das ist nicht die einzige Grauzone, die mir dazu einfällt. Es gibt ja auch Dinge, die irgendwie wahr sind - und irgendwie auch nicht.

Jetzt möchte ich gern zwei von diesen Halbwahrheiten vorstellen: Ich kann nicht sehen. Deshalb kann ich nicht, wie andere Menschen, ein normales Leben führen. Die erste Aussage, scheint ja eigentlich ganz eindeutig wahr zu sein. Vor meiner Geburt hat sich nämlich mein Sehnerv nicht entwickelt, deshalb bin ich blind. Aber bedeutet das wirklich, dass ich gar nicht sehen kann?

Ich frage mich schon manchmal, ob es nicht - abgesehen vom Schauen mit den Augen - noch andere Definitionen von diesem Begriff gibt. In manchen Geschichten gibt es zum Beispiel blinde Menschen, die in die Zukunft blicken können - ich wünschte manchmal, ich selbst würde auch zu diesen Menschen gehören… Aber das ist ja noch nicht das Einzige, was sehen bedeuten kann. Man kann zum Beispiel auch etwas einsehen - ich weiß nicht, wie oft ich schon den Satz "Ich sehe jetzt, dass du recht hast" gehört oder - was noch viel bemerkenswerter ist - selber gesagt habe.

In dem Roman "Der kleine Prinz" gibt es außerdem den Spruch "Man sieht nur mit dem Herzen gut". Ich finde diesen Satz deshalb so schön, weil ich oft merke, wie wahr er ist. Mit den Augen kann man nämlich zum Beispiel nicht das Gefühl der Liebe erblicken, das andere Menschen einem entgegenbringen - oder deren Bedürfnis, geliebt zu werden. Meiner Meinung nach ist diese Art von Sehvermögen viel wichtiger - und so hoffe ich doch, dass es mir möglich ist, etwas mit dem Herzen wahrzunehmen. Dies aber würde wiederum bedeuten, dass der Satz "Ich kann nicht sehen" nicht die ganze Wahrheit ist.

Was das normale Leben angeht, so habe ich erst einmal eine Frage: Wer kann von sich behaupten, einfach nur gewöhnlich zu sein? Wer kann nicht irgendetwas Besonderes an sich finden? Was ist überhaupt normal? Meiner Meinung nach kann dieser Begriff nicht wirklich definiert werden. Ich denke das, weil ich in meinem Umfeld bemerke - auch hier könnte ich stattdessen "sehe" sagen - dass kein Mensch dem anderen gleicht und somit eigentlich keine richtige Norm entstehen kann.

Natürlich könnte man jetzt von überall das Mittelmaß nehmen und die Norm danach definieren. Aber das wirft dann in meinem Kopf die Frage auf: Welcher Mensch entspricht immer diesem Durchschnittsmaß? Gibt es überhaupt so jemanden? Während ich so darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass ich vielleicht aus meinen Anfangsaussagen "Ich kann nicht sehen. Deshalb kann ich nicht, wie andere Menschen, ein normales Leben führen" so etwas wie "Ich kann mit meinen Augen nicht sehen, habe aber trotzdem, wie alle anderen, mein besonderes Leben" machen sollte.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Urheber/Urheberin: Jerome Kern
Johnny Mercer
Album: Blue Train
Titel: I'm old fashioned
Ausführende: John Coltrane
Länge: 07:58 min
Label: Blue Note 46095

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