Anna Weidenholzer

KATSEY

Gedanken für den Tag

Die dunkle Seite der Empathie

Anna Weidenholzer, Schriftstellerin, über Empathie und ihre Spuren

"Wenn Lesen die Fähigkeit zur Empathie tatsächlich fördert, wie uns ständig erzählt wird, scheint Schreiben sie zu vermindern", ist in Sigrid Nunez' Roman "Der Freund" zu lesen.

Folgt man Fritz Breithaupt, könnte dieser Satz auch ein Kompliment sein. In seinem Buch "Die dunklen Seiten der Empathie" geht er der Frage nach, welche Schattenseiten dieser, im Alltagsverständnis so positiv besetzte Begriff, mit sich bringt. Breithaupt beschäftigt sich mit "Untaten, (die) nicht trotz, sondern aus Empathie geschehen."

Menschen, die den Schmerz der anderen genießen, sei es durch Strafen, Demütigen, Herabsetzen oder Bloßstellen. Sadisten, die Freude am Leid des anderen empfinden, weil sie sich gut in ihr Gegenüber einfühlen können. Schikanen, überfürsorgliche Helikopter-Eltern bis hin zu Stalkern, die dunklen Varianten des "Eins-Fühlens mit dem Zustand eines anderen". Empathie spornt zu moralisch richtigem Verhalten an, genauso wie sie grausame Taten ermöglicht.

Dass Empathie nicht zwingend geradlinig verläuft, sondern auch von Blockaden und Umlenkungen geprägt ist, zeigt Breithaupt mit einem Beispiel aus Hannah Arendts "Bericht von der Banalität des Bösen, Eichmann in Jerusalem". Darin beschreibt Arendt, wie sich Nazis vom Mitleid mit ihren Opfern lösen konnten: "Der von Himmler (...) angewandte Trick war sehr einfach und durchaus wirksam; er bestand darin, dies Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten. So dass die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muss ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet diese Aufgabe auf meinen Schultern!"

Service

Sigrid Nunez, "Der Freund", Verlag Aufbau
Fritz Breithaupt, "Die dunklen Seiten der Empathie", Suhrkamp Verlag
Hannah Arendt, "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen", Verlag Piper

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludovico Einaudi
Album: Cinema
Titel: Seven Days Walking / Day 1 - Low mist/instr., verwendet in dem Film "Nomadland"
Solist/Solistin: Ludovico Einaudi
Ausführender/Ausführende: Federico Mecozzi
Ausführender/Ausführende: Redi Hasa
Länge: 05:27 min
Label: Universal 4855912 (2 CD)

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