Weinende Frau in der südlichen Ukraine

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Medizin und Gesundheit

Was der Krieg bei Menschen anrichtet

Die psychischen Folgen der Gewalt in der Ukraine

Seit über 650 Tagen herrscht Krieg in der Ukraine. Nicht zuletzt aufgrund des aktuellen Nahost-Konfliktes ist die nach wie vor anhaltende, katastrophale Lage jedoch aus dem Fokus der Berichterstattung geraten. Für die betroffenen Menschen stellt sich die Situation allerdings weiterhin überaus bedrohlich dar. In den umkämpften Gebieten geht es nach wie vor ums Überleben. Teilweise ohne Wasser, Strom oder medizinische Versorgung. Mit dem Beginn des Winters verschärft sich die Krise. Zahlreiche Binnenflüchtlinge suchen Schutz in Notschlafstellen, die dafür kaum gerüstet sind. Unterstützung ist dringend notwendig, vor allem auch in ländlichen Gebieten, wo es oft am nötigsten fehlt, wie das Hilfswerk International berichtet.

Wenn der Ausnahmezustand Alltag wird

Für manche ist der Ausnahmezustand bereits Alltag geworden. Zerstörtes wird wieder aufgebaut und die Menschen versuchen, so gut es geht, Normalität zu leben. Die ständige Unsicherheit, das Heulen der Sirenen, die Angst um Angehörige an der Front, macht den Krieg aber in der ganzen Ukraine allgegenwärtig.
Laut SOS Kinderdörfer benötigen 10 Millionen Menschen im Land dringend psychologische Hilfe, darunter 1,5 Millionen schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche.

Die Folgen der Angst

"Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Nervosität, Kopfschmerzen und andere psychosomatische Beschwerden, die durch Angstzustände verursacht werden, sind in der Ukraine weit verbreitet", erklärt der Allgemeinmediziner und langjährige Präsident von "Ärzte ohne Grenzen Österreich", Reinhard Dörflinger. Er war vor wenigen Wochen mit dem Internationalen Hilfswerk bei einer Projektreise in den Krisengebieten vor Ort. Auch in jenen "vergessenen" Regionen an der Frontlinie, die kaum Unterstützung von außen erhalten. "Die Menschen in der Ukraine stehen nicht nur physisch, sondern auch mental unter enormem Druck."

Krieg beschädigt die Seele

Es ist bekannt, dass das Erleben eines Krieges ein großes Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder Angststörungen birgt. Selbst wer körperlich unversehrt bleibt, trägt nicht sichtbare Wunden mit sich, die über viele Jahre nur zögerlich verheilen. Manche nehmen das Geschehene, wie losgelöst von sich selbst, von außen wahr. Ein Phänomen, das man in der Psychotherapie als "Dissoziation" kennt. Ein Schutzmechanismus für die Psyche. Zwischen 20 und 40 Prozent der Betroffenen entwickeln ein posttraumatisches Stresssyndrom (PTSD). Sie erleben in Flashbacks oder Albträumen das Trauma immer und immer wieder. Auch sozialer Rückzug ist eine typische Erscheinung.

Flucht vor dem Krieg

Auch die ukrainisch-stämmige und in Österreich lebende Psychotherapeutin Nataliya Tereshchenko ist betroffen. Sie wollte nach ihrer Ausbildung eine Praxis in Kiew eröffnen. Das war im Dezember 2020. Drei Monate später musste sie aufgrund der Invasion der russischen Armee fliehen. Nun unterstützt sie geflüchtete und kriegstraumatisierte Menschen, die der Krieg nach Österreich gebracht hat. Denn abgesehen vom Erlebten müssen sie sich in einer fremden Kultur zurechtfinden. "Umso wichtiger, psychische Hilfe in der Muttersprache anbieten zu können", so die Psychotherapeutin. Ob sie denn immer noch zurück möchte? "Ja. Die Ukraine ist ein schönes Land, reich an Möglichkeiten."

Schwierige Traumatherapie bei anhaltender Gewalt

Traumatherapie ist eine Form der Psychotherapie, die betroffenen Menschen nach einer traumatischen Erfahrung hilt. Nach einer Stabilisierungsphase folgt die Trauma-Exposition und die Konfrontation mit dem Erlebten - natürlich in einem geschützten Umfeld, sowie die Phase der Neuorientierung. Ziel ist, die eigenen Ressourcen zu stärken und wieder handlungsfähig zu werden. Allerdings kann die Traumatherapie erst dann beginnen, wenn eine äußere Sicherheit gegeben ist, wie die Notfallpsychologin Johanna Gerngroß erläutert. "Hält die Bedrohung noch an - wie im aktuellen Krieg - so ist die direkte Arbeit am Trauma oft noch nicht möglich. Hier steht die Stabilisierung im Vordergrund - idealerweise in einem Bereich, der einigermaßen Schutz bietet".
Die vom Hilfswerk eingerichteten "Help Points" vor Ort tragen dazu bei, einen solchen Raum zu schaffen und bieten Menschen in der Ukraine neben der Versorgung mit Hilfsgütern auch psychosoziale Hilfe und Beratung an.

Wie lässt sich ein derart lang andauerndes, kollektives Trauma bewältigen, wenn die Gefahr noch nicht vorbei ist? Und wie kann geholfen werden?
Dr. Ronny Tekal spricht mit seinen Gästen in der aktuellen Ausgabe des Radiodoktors über die psychischen Auswirkungen einer humanitären Katastrophe.

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.

Stammen Sie aus der Ukraine und sind Sie oder Ihre Angehörigen direkt betroffen?
Wie geht es Ihnen damit?
Gibt es hierzulande ausreichend Hilfsangebote?

Service

Zu Gast im Ö1 Haus Wien:

Nataliya Tereshchenko
Psychotherapeutin / Psychoanalytikerin in A.u.S.
Mitgründerin von Ukrainian Women's Power Club
Tel: +43/681/81705940
E-Mail
Homepage

Gäste am Telefon

Mag.a Dr.in Johanna Gerngroß
Klinische und Gesundheitspsychologin
Leiterin Universitätslehrgange Notfallpsychologie Traumapädagogik SFU
Tel: +43/699 190 18 419
E-Mail
Homepage

Dr. Reinhard Dörflinger
Arzt für Allgemeinmedizin
ehem. Vorstandsmitglied von "Ärzte ohne Grenzen",
Im November 2023 mit dem Hilfswerk International im Ukraine-Einsatz
Tel.: +43/664/523 15 07
E-Mail
Homepage

Weitere Informationen zum Thema:

Ukraine: "Der Winter wird hart" (Hilfswerk International, 2023)
Ärzte ohne Grenzen zur Lage in der Ukraine

Liste von Organisationen für Ukrainehilfe

Real-Life-Studie zum Ukraine-Krieg (Karl-Landsteiner-Universität, 2023)
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Psychologische Auswirkungen und Hilfe bei Trauma (Brigitte Lueger-Schuster, Universität Wien)
National Psychological Association Ukraine
Hemayat - Betreungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende

Spendenkonto Nachbar in Not

Telefonische Hilfe

Psychische Unterstützung für Menschen aus den Kriegsgebieten:
AMIKE-Telefon: Mehrsprachiges Angebot zur psychologischen Unterstützung (Diakonie)
+43/1/343 01 01 (anonym, kostenlos, mehrsprachig)

Traumahilfe Österreich Helpline
+43/1/413 00 44

Bücher:
Johanna Gerngroß
Stark durch krisenhafte Zeiten
Schattauer, 2023

Jen Jessen, Reto Klar
Leben in einem Albtraum: Was der Krieg in der Ukraine mit den Menschen macht
Klartext, 2023

Luise Reddemann, Cornelia Dehner-Rau
Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden: Ein Übungsbuch für Körper und Seele
Trias 2020

Sendereihe