Liberté, Abschiede und Ahnungen

29. Dezember 2023, 19:30

Abschied vom London Symphony Orchestra als Chefdirigent nahm Sir Simon Rattle mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9 und einem "jener Meisterwerke, das die Leute nicht kennen, einem wahnsinnig schwierigen, aber zutiefst berührenden Werk."


Liberté

In "Figure humaine", seiner Kantate für zwölfstimmigen Doppelchor, vertonte Francis Poulenc acht Gedichte des Surrealisten Paul Éluard, der sich im 2. Weltkrieg der Résistance, der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzungsmacht, angeschlossen hatte. Die Gedichte, die unter einem Pseudonym erschienen, sehnen sich nach dem "Ende der Tyrannei", nach Frieden, Menschlichkeit, Freiheit. Kopien des letzten Gedichts, "Liberté", wurden von der Royal Air Force über Frankreich abgeworfen. Das Gedicht wurde zum Symbol der Résistance. Poulencs Verleger druckte die Kantate und schmuggelte sie nach London, wo sie 1945 von den BBC Singers uraufgeführt wurde und von der BBC übertragen wurde. Poulenc wollte, dass dieser "Akt des Glaubens ohne die Hilfe eines Instruments nur durch Stimme des Menschen ausgedrückt werden möge." Die Kantate endet mit dem längsten Gedicht. Éluard zählt auf, was ihm bedeutend ist - seine Schulhefte, sein Frühstücksbrot, Freunde, sein tapsiger Hund usw. Er sucht einen "einzigen Gedanken", ein treffendes Wort. Zunächst wollte den Namen der Frau "preisgeben", die er liebte. Doch dann: "Liberté", Freiheit. Die letzten Takte sind berüchtigt. Tonhöhe und Lautstärke steigern sich. Alle Stimmen finden in einem strahlenden E-Dur-Akkord über vier Oktaven zusammen, ein vierfaches Forte auf der letzten Silbe von "Liberté" - der höchste Sopran einer der beiden Chöre muss ein strahlendes hohes "e" treffen. 1946, nach der Aufführung durch den belgischen Rundfunkchor, schrieb Poulenc dem Dirigenten: "Mit einem Mal konnte ich 20 Minuten lang glauben, dass ich ein großer Komponist bin! Ein sehr schönes Gefühl!"


Abschied

Der letzte Satz in Mahlers "Lied von der Erde" ist mit Abschied überschrieben, Abschied von der Erde, vom Leben. Dieses Thema greift Mahler in der 9. Symphonie auf, besonders in den Sätzen eins und vier. Die Mittelsätze sind Rückblicke auf Volkstümlichkeit, auf Vulgarität, auf schlechte Erfahrungen, auf Gesellschaftliches. Für den 2019 verstorbenen Dirigenten Michael Gielen war der 1. Satz dieser Symphonie "der wichtigste und der empfundenste (sic) und der endgültige Satz des ganzen Mahler." Der 2. Satz mit seinen drei Typen von Ländlern ist für Gielen "eine Apotheose des Österreichertums . keine Tanzmusik, sondern Zitat und symphonische Verarbeitung von Tanzmusik." Der 3. Satz, Burleske, ist "gesellschaftskritisch. Nach fratzenhaftem Beginn" hört man im Mittelteil "oberflächliche Unterhaltungsmusik, zitathaft, das ist nicht Mahler, es ist das Zerstörerische einer oberflächlichen Gesellschaft"; das 1. Trio ist "wieder billigste Café de Paris-Musik"; aber das 2. Trio: "schöne Musik, unglaublich schöne Musik, wirkliche Mahlermusik - der utopische Moment mit der Trompetenmelodie hat etwas Erhabenes", für Gielen ein "Blick über die Niederungen." Auf die "wahnwitzig gesteigerte Coda" gibt der Finalsatz Antwort: die Tragik des Einzelnen, sein Abschied vom Leben, ein Aussingen. Am Höhepunkt drei Melodien gleichzeitig, "das scheint schier kein Ende zu nehmen, doch das Leben entzieht sich, schließlich völlige Verlassenheit." Vor dem letzten Saitenspiel schreibt Mahler "ersterbend".


Ahnungen

Anfang 2011 gab das schwedische Trio ZilliacusPerssonRaitinen dem schwedischen Komponisten Anders Eliasson einen Auftrag für ein Streichtrio. Im Dezember erhielt Eliasson die Diagnose Krebs - Lebenserwartung maximal ein Jahr. Ende April 2013, nach Vollendung des Streichtrios, wünschte sein Verlag einen Titel. Eliasson wollte, wie im Violinkonzert "Einsame Fahrt", einen deutschen. Das Wort "Ahnung" für das schwedische "aning"? Zu eindimensional. Wollte er auf seinen bevorstehenden "Abschied" hinweisen? Nicht nur. Oft hatte er angedeutet, dass er das "immense Potential" der von ihm "entdeckten neuen Musikgrammatik" nur erahnen könne. Sie wollte er in seiner 5. Symphonie, für die ihm keine Zeit mehr blieb, weiterentwickeln. Also "Ahnungen". Die Widmungsträgerinnen waren sich der Herausforderung bewusst: zu keiner Zeit dürften sie den polyphonen Kontext in diesem einheitlichen, nur sporadisch in drei satzähnliche Tempozonen geteilten Trio, in dem sich Motive kontinuierlich entwickeln, aus dem Bewusstsein verlieren.
Das letzte Mal, als der Komponist Mats Larsson Gothe, der dem Schwerkranken mit der Korrektur und Digitalisierung der fertigen Partitur geholfen hatte, mit ihm sprach, war am Telefon; die Noten seien bereits im Verlag. Es war ein Donnerstag. "Wir sehen uns nächste Woche." Eliasson: "Das glaube ich nicht". Am folgenden Montag, den 20. Mai 2013, verstarb er wenige Wochen nach seinem 66. Geburtstag.

Service

Wilfred Mellers: Francis Poulenc. Oxford Studies of Composers. Oxford 1993.
http://12koerbe.de/phosphoros/liberte.htm

Michael Gielen / Paul Fiebig: Mahler im Gespräch. Die zehn Sinfonien. Stuttgart 2002.
https://anders-eliasson-society.com/rhythmic-balance-and-plasticity-in-anders-eliassons-music

https://en.lundmanuskript.se/anders-eliasson

Sendereihe

• Das Ö1 Konzert

Gestaltung

• Peter Kislinger