Die Brücke

27. Februar 2024, 06:57

Manchmal habe ich das Gefühl, ich tanze nur über dem Abgrund, und alles kann jeden Moment einstürzen, also ich über die Illusion eines Lebens.

Ich erzähle das dann der Trauerbegleiterin vom Roter Anker der CS Caritas Socialis, wo ich hingehen kann und reden. Ich sage, ich fühle mich wie auf dieser Brücke mit Holzsprießeln. Diese Wackelbrücke, die es nur im Urwald in Brasilien gibt oder auf Postern oder vielleicht gar nicht auf dieser Welt. Aus den Filmen.

Diese ganz schmale Hängebrücke. Links und rechts davon sind zwei ganz hohe Berge und in der Mitte eine ganz tiefe Schlucht. Im Urwald. Seil und schmale Holzsprießeln und Pflanzen links und rechts, wilde Natur und unten ein Wasser, also sehr, sehr weit unten. Ich gehe auf dieser Brücke entlang, Holz für Holz. Es wackelt. Ich kann mich festhalten an den Seilen auf der Seite, aber wenn das Holz brechen würde, würde ich runterfallen.

Das Leben ist so fragil geworden. Die Trauerbegleiterin fragt mich: Auf welcher Höhe der Brücke bist du denn ungefähr in deiner Fantasie? Und ich sage: Naja, so kurz vor der Hälfte. Und sie sagt: Wirklich? Kurz vor der Hälfte? Das ist ja großartig. Du hast schon die Hälfte geschafft. Und kennst du das? Die zweite Hälfte geht oft schneller. Also wenn man auf Urlaub ist zum Beispiel, dann kommen einem die ersten Tage länger vor und dann geht's viel schneller. Und der Praktikant mit den langen Haaren hier in der Trauerbegleitung, der zuhört und freundlich lächelt, denkt sich, ich hab offenbar Sicherheit, die Seile, Sicherheitsseile.

Es geht mir jetzt hier nicht darum, irgendeinem Weg konkret eine Dauer zu geben. Eigentlich will ich heute über die Kunst des Umdenkens, also des Denkens erzählen. Wie man sich die Dinge immer anders denken kann. Dieses das Glas ist halb voll oder halb leer praktizieren und üben bis zum Umfallen. Die Trauerbegleiterin würde jetzt wahrscheinlich sagen "umfallen" - was für ein guter Gedanke. Da kannst du nämlich danach wieder aufstehen. Und hast gelernt, dass du das immer und immer wieder machen kannst: aufstehen.

Service

Anja Salomonowitz: Film "Mit einem Tiger schlafen"

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler