PICTUREDESK.COM/AFP/ATTA KENARE
Punkt eins
Der Gottesstaat - nach außen stark, im Inneren schwach
Die Islamische Republik Iran am Tag der Wahl. Gast: Univ. Prof. Dr. Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin, Universität Köln, Institut für Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt. Moderation: Andreas Obrecht. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at
1. März 2024, 13:00
Anfang Jänner hat der oberste politische und geistliche Führer des mehrheitlich schiitischen Iran, Ajatollah Ali Chamenei, zu einer regen Teilnahme an der am 1. März stattfindenden Wahl aufgerufen: "Wer sich gegen die Wahl stellt, hat sich gegen die Islamische Republik gestellt!", ließ der 84-Jährige über eine staatliche Nachrichtenagentur verlauten.
Nicht ohne Grund befürchtet die Staatsspitze eine historisch niedrige Beteiligung der Bevölkerung an dieser Parlamentswahl, bei der auch der sogenannte Expertenrat, der die Nachfolge Chameneis regelt, neu gewählt wird.
Nach dem gewaltsamen Tod der Kurdin Masha Amini in Polizeigewahrsam im September 2022 kommen die Protestwellen nicht zum Erliegen. Regierungskritische Stimmen rufen seit Monaten zum Boykott dieser Wahl auf, nicht zuletzt auch deswegen, weil viele Kandidatinnen und Kandidaten aufgrund "mangelhafter ideologischer Qualifikation" - so der Wortlaut - vom Wahlgremium nicht zugelassen wurden.
So stark und kämpferisch sich die Islamische Republik nach außen gibt, so schwach scheint sie, deren politische Eliten sich nur durch Repression behaupten können, im Inneren zu sein. Zwar wurden bei den staatlich organisierten Umzügen zur Feier des 45. Jahrestages der Islamischen Revolution Parolen wie "Tod den USA" und "Tod für Israel" gerufen, aber diese sich seit Jahrzehnten wiederholenden Bekundungen gegen äußere Feinde vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Kluft zwischen Volk und Regime einen Tiefststand erreicht hat. Denn die größte Bedrohung für das Mullah-Regime, so Kommentatoren, sei mittlerweile das iranische Volk selbst.
Das sei auch der Grund, warum sich der Iran, der sich gern als schiitische Schutzmacht inszeniert, kein Interesse hat, in den Gaza-Krieg direkt einzugreifen. Es gäbe dafür keinen Rückhalt in der eigenen Bevölkerung.
Die Hisbollah im Libanon, die iranischen Revolutionsgarden in Syrien, im Irak, die Huthi im Jemen und andere lokale Milizen und Einheiten werden als Teil der "Achse des Widerstandes" gegen Israel und die USA vom Gottesstaat finanziert, verfolgen aber auch ihre eigenen Interessen. Während der Iran seine Rolle als starke Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten gefestigt sehen will, und Drohnen an Russland zwecks Vernichtung der Ukraine liefert, hat sich in seinem Inneren Ausweglosigkeit und Wut etabliert - mehr noch: "Der Theokratie geht die Religion verloren!", schreibt die Iran-Forscherin Katajun Amirpur in ihrem Buch "Iran ohne Islam", das sich detailreich mit den vor allem von Frauen getragenen Protestbewegungen der letzten eineinhalb Jahre befasst. Während sich viele auflehnen und dennoch kein Ende des Kopftuchgebotes in Sicht ist, diffundieren andere Teile der Gesellschaft: Drogenkonsum und Prostitution stellen ein veritables Problem dar, zudem verlassen jährlich rund 200.000, zumeist gut ausgebildete Iraner beiderlei Geschlechts das Land.
Am Tag der Wahl im Iran ist Katajun Amirpur zu Gast bei Andreas Obrecht und diskutiert mit den Hörerinnen und Hörern die neuesten Entwicklungen und die alten Widersprüche eines in die Jahre gekommenen Gottesstaates.
Wie immer freut sich die Punkt eins Redaktion über rege Teilnahme der Hörerinnen und Hörer an der Sendung, unter punkteins(at)orf.at oder unter 0800 22 69 79 telefonisch während der Sendung.
Service
Buch:
Katajun Amirpur (2023): Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat. Verlag C.H. Beck, München
Sendereihe
Gestaltung
- Andreas Obrecht
Playlist
Komponist/Komponistin: Homayoun Shajarian & Sohrab Pournazeri
Titel: So Much the Better
(davon 13 Sek. unterlegt)
Ausführende: Homayoun Shajarian & Sohrab Pournazeri
Länge: 04:28 min
Label: Théâtre De La Ville
Komponist/Komponistin: Martin Tingvall
Titel: In Memory (davon 39 Sek. unterlegt)
Ausführende: Tingvall Trio
Länge: 05:16 min
Label: Skip rec.
Komponist/Komponistin: Tord Gustavsen
Titel: Twins (davon 1 Min. 26 Sek. unterlegt)
Ausführende: Tord Gustavsen Trio
Länge: 04:53 min
Label: ECM