Ein Reisepass

ORF/ISABELLE ORSINI ROSENBERG

Punkt eins

Ein Österreicher, zwei Pässe

Hat die exklusive Staatsbürgerschaft ein Ablaufdatum? Gäste: Univ.-Prof. Doz. Dr. Rainer Bauböck, u.a. Visiting Fellow am Robert Schuman Centre for Advanced Studies, korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften & Univ.-Ass. Mag. Lukas Tschemernjak, BA, Universität Wien, Juridicum, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht. Moderation: Alexander Musik. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Rund 1.200 Neuanträge für ein Staatsbürgerschaftsverfahren wurden bei der Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsabteilung der Stadt Wien (MA 35) im Jänner gestellt. Das sind vier Mal so viele Neuanträge wie im Monatsschnitt der letzten zwei Jahre.

Das liegt nicht zuletzt an der Flüchtlingskrise von 2015 und der Gesetzeslage, wonach anerkannte Asylwerber:innen u.a. zehn Jahre unbescholten und ununterbrochen in Österreich gelebt haben müssen, um einen Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft stellen zu können. Bis er oder sie dann zu einem persönlichen Termin vorsprechen darf, vergeht bei der für das Land Wien zuständigen Dienststelle MA 35 knapp ein Jahr. Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) erklärte die lange Wartezeit unter anderem mit Verweis auf die "bürokratische und schikanöse Gesetzeslage", die der Vizebürgermeister auf Grund wegen der teils absurden Bestimmungen im Staatsbürgerschaftsgesetz erneut kritisierte.

Das Staatsbürgerschaftsgesetz vermeidet Doppel- und Mehrfachstaatsbürgerschaften: Wer die österreichische Staatsbürgerschaft erwirbt, der oder die muss grundsätzlich "aus dem bisherigen Staatsverband ausscheiden"; und wer freiwillig eine fremde Staatsbürgerschaft annimmt, der oder die verliert grundsätzlich die österreichische.

Österreich setzt für den Erwerb der Staatsbürgerschaft hohe Hürden, die seit Langem in der Kritik stehen. Wieder einmal fordern AuslandsösterreicherInnen in einer aktuellen Petition, unterstützt vom Weltbund der Auslandsösterreicher, eine Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Die über 600.000 AuslandsösterreicherInnen, ob in Kanada, den USA oder Großbritannien, wollen nämlich ihren österreichischen Pass behalten, auch wenn sie einen US-amerikanischen oder kanadischen erwerben wollen (oder müssen).

Lukas Tschemernjak schreibt an seiner Dissertation zu diesem Thema. "Die exklusive Staatsbürgerschaft steht in unserer globalisierten, mobilen Welt aus verschiedenen Gründen unter Druck", so der Jurist: "Erstens demokratiepolitisch, weil die zwei Gruppen wahlberechtigtes Staatsvolk und Wohnbevölkerung auseinanderdriften, zweitens der internationale Trend zur Akzeptanz von Doppelstaatsbürgerschaften und drittens die punktuellen Anpassungen, die zwar am Exklusivitätskonzept festhalten, es aber allmählich durchlöchern."

Staaten verlangen Loyalität und Konfliktvermeidung; sie wollen ihre Bürger:innen eindeutig einem Staat zuordnen. Speziell in Österreich stehen diese Vorgaben nach wie vor auf der Tagesordnung, auch wenn sie augenscheinlich im Widerspruch mit der Rolle Österreichs als Einwanderungsland stehen.

Der Soziologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck formulierte schon in seiner Habilitationsschrift 1994 die Idee einer "Transnational Citizenship": "Da die Teilhabe an einer Gesellschaft sich im Zeitverlauf durch die Präsenz vor Ort und Interaktion mit anderen entwickelt, sollte auch der langfristige Aufenthalt und nicht der formalrechtliche Staatsbürgerstatus entscheidend für die soziale und politische Teilhabe sein", so Bauböck.

Ein Beispiel: An der Bundespräsidentenwahl 2022 konnten 1,4 Millionen Menschen über 16 Jahren, die in Österreich leben, nicht teilnehmen - obwohl sie von den Folgen dieser Wahl selbst betroffen sind. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft sei eben ein hohes Gut, das sich Nicht-Österreicher:innen erst verdienen müssten - durch Integration und einen Beitrag für die Gesellschaft, so die Argumentation der ÖVP-Regierung, die sich einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts bisher verschließt.

Ist das Vermeiden von Doppelstaatsbürgerschaften noch zeitgemäß? Wie steht es um die Situation der Staatenlosen in Österreich? Trägt die überbordende Bürokratisierung des Einbürgerungsprozesses zur Abschreckung auch jener Arbeitskräfte bei, die der Staat eigentlich ins Land holen will? Haben Sie selbst Erfahrungen mit Doppel- oder Mehrfachstaatsbürgerschaften weltweit gemacht?

Wie immer sind Sie eingeladen, sich an der Sendung zu beteiligen, in der bei Moderator Alexander Musik der Soziologe Rainer Bauböck und der Jurist Lukas Tschemernjak Gäste sind. Kostenlos aus ganz Österreich können Sie uns unter 0800 22 69 79 erreichen; oder Sie schreiben uns ein Mail an punkteins(at)orf.at

Sendereihe

Gestaltung

  • Alexander Musik

Playlist

Urheber/Urheberin: Frederic Chopin
Titel: 24 Préludes, Op. 28, Nr. 3 in G-Dur
Ausführender/Ausführende: Martha Argerich
Länge: 00:51 min
Label: DDG

Urheber/Urheberin: Frederic Chopin
Titel: 24 Préludes, Op. 28, Nr. 4 in E-Moll
Ausführender/Ausführende: Martha Argerich
Länge: 01:52 min
Label: DDG

Urheber/Urheberin: Frederic Chopin
Titel: 24 Préludes, Op. 28, Nr. 6 in B-Moll; zT unterlegt
Ausführender/Ausführende: Martha Argerich
Länge: 01:47 min
Label: DDG

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