Die Sonne scheint durch in Gipfelkreuz

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

Der Weg ins Innere

von Mirja Kutzer, Theologin und Germanistin

Mystische Strömungen gibt es in fast allen religiösen Traditionen. Die christliche Mystik nimmt erst im hohen Mittelalter so richtig Fahrt auf. Hier häufen sich die Texte, die eine mystische Gotteserkenntnis thematisieren und Wege anbieten, auf denen Menschen zur Vereinigung mit Gott, zur unio mystica, finden können.

Diese Wege sind Reaktion auf eine Erschütterung. Für den mittelalterlichen Menschen war die ihn umgebende Wirklichkeit wie ein Buch. Alles Sichtbare galt als Zeichen einer anderen, himmlischen Wirklichkeit. Und wenn man richtig in diesem Buch las, dann konnte man erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch nach und nach schwindet dieses mittelalterliche Kosmosdenken. Ein neues Weltverständnis bricht sich Bahn, das dann die Neuzeit charakterisieren wird: Die Dinge existieren um ihrer selbst willen - und nicht, um Hinweise auf das Himmlische zu geben.

Wo ist neue Sicherheit zu finden? Wo spricht Gott, wenn die Welt aufgehört hat zu sprechen? Das ist die Frage, die die Mystikerinnen und Mystiker umtreibt. Sie wählen einen Weg, der ebenfalls typisch wird für die Neuzeit: Das Individuum, das menschliche Subjekt tritt ins Zentrum. Das mystische Ich sucht Gott nicht mehr in der sichtbaren Außenwelt, sondern in seinem Inneren.

Es findet die Spuren Gottes dort, wo das Ich sich selbst entzogen ist - in den Affekten, die es erlebt; in augenblickhaften Erkenntnissen, die es nicht produziert; in den Somatismen des Körpers, über die es nicht gebietet. In den Texten der mystischen Tradition tritt uns kein cogito ergo sum entgegen, wie es René Descartes formuliert hat - ein stabiles Ich, das um sich selbst und die Dinge in der Welt weiß. An seine Stelle rückt ein homo affectus est, ein von Gefühlen getroffenes, fragiles, gefährdetes Selbst, das schließlich auch in Gott keine letzte Sicherheit findet. In welchem Ich, so frage ich mich, finden wir uns mehr wieder?

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Josquin Desprez um 1450 od. 1455 - 1521
Album: "ALLERLEY DAENTZE..." - TANZMUSIK AUS MITTELALTER UND RENAISSANCE
Titel: La Spagna a 5
Ausführende: Odhecaton - Ensemble für alte Musik, Köln
Länge: 02:54 min
Label: FSM FCD 97751

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