Punkt eins

Zivilcourage: Nur Mut?

Vom Einschreiten gegen Unrecht und dem Einsatz für die Mitmenschen. Gäste: Prof. Dr. Anna Baumert, Leiterin der Forschungsgruppe "Zivilcourage" am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialpsychologie und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Wuppertal & Rat Reinhard Ruso, Leiter Referat "Allgemeine Kriminalprävention" im Büro Kriminalprävention und Opferhilfe, Bundeskriminalamt. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Eine Gruppe Jugendlicher belästigt vor einem Eisgeschäft in Wien-Favoriten am Sonntagabend, 17. März, zwei Frauen. Ein junger Mann, ein Grundwehrdiener, 21 Jahre alt, beobachtet die Situation und stellt sich schützend vor die Frauen, fordert die Jugendlichen auf, sie in Ruhe zu lassen. Plötzlich zieht einer der Männer ein Messer und sticht mehrfach auf den Grundwehrdiener ein, der schwer verletzt in ein Spital gebracht wird. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner belobigte den jungen Mann persönlich: "Zivilcourage gehört geehrt und besonders hervorgehoben! Denn Zivilcourage ist nicht selbstverständlich."

Zivilcourage ist die große Ausnahme. In der U-Bahn provozieren Jugendliche? In der Schule wird ein Kind gehänselt, online ein Klassenkollege gemobbt, im Büro eine Mitarbeiterin niedergemacht, am Spielplatz ein Kind von seiner Mutter beschimpft, im Supermarkt ein Mann rassistisch beleidigt, in der Disco ein Mädchen belästigt? Was tun Sie? Schauen Sie weg, gehen Sie weg oder handeln Sie? Mischen Sie sich ein?

Jede:r hat vielfach Situationen erlebt, in denen Menschen beschimpft, beleidigt, gemobbt, mitunter körperlich bedroht und angegriffen werden. Jede:r findet Zivilcourage wichtig und so gut wie alle, die in Forschungsprojekten mit solchen hypothetischen Szenarien zum Thema Zivilcourage befragt werden, sagen, sie würden sich einmischen. Doch in der Praxis tun es die allerwenigsten.

Wann und warum Menschen sich für ihre Mitmenschen, gegen Unrecht oder für bestimmte Normen und Werte einsetzen und was sie davon abhält, sind Fragen, mit denen sich Anna Baumert in komplexen wie spannenden Forschungen auseinandersetzt. Anna Baumert leitet die Forschungsgruppe "Zivilcourage" am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern und ist Professorin für Sozialpsychologie und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Wuppertal. Sie beschränkt sich in ihren Forschungen nicht auf hypothetische Szenarien, sondern entwickelt aufwendige Versuchsanordnungen, um zu ergründen, wie es zu der beachtlichen Diskrepanz zwischen dem Vorhaben und dem tatsächlichen Eingreifen kommt. "Es geht nicht um Mut des Mutes willen", sagt Anna Baumert, und: "viele Menschen überschätzen sich stark".

Zivilcourage ist keine Eigenschaft, keine angeborene Fähigkeit, man muss sie lernen und üben. Sechs Verhaltensempfehlungen werden dabei vermittelt:

Hilfe organisieren, zum Beispiel den Notruf wählen, die Polizei verständigen.
Helfen Sie, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
Den Kreis der Helfenden erweitern: andere direkt und aktiv zur Mithilfe aufrufen.
Sich um das Opfer kümmern, zum Beispiel Erste Hilfe leisten.
Die Situation einprägen, sich Tätermerkmale merken.
Später als Zeugin oder Zeuge zur Verfügung zu stehen.

Doch da ist die Angst, selbst angegriffen zu werden, die Unsicherheit, wie das umzusetzen und was konkret zu tun ist, der Zuschauereffekt ("irgendwer wird schon was tun"). Die Gründe, warum Menschen sich nicht gegen Unrecht einsetzen, sind komplex. Erschwerend kommt hinzu, dass die gängigen Mechanismen für Zivilcourage in der virtuellen Welt und im Einsatz gegen Cybermobbing, rassistische Postings, Übergriffe und Bedrängen nicht gelten und wirken. Die unbeteiligten Dritten könnten anderen zur Seite stehen, eine Situation entschärfen, aufzeigen, dass Hass im Netz nicht stillschweigend geduldet wird - doch es passiert so gut wie nicht. Anna Baumert erforscht auch, wie man Hetze im Internet dennoch entgegentreten und ihr ihre Wirkung nehmen kann.

Grundsätzlich gilt: Alles ist besser als wegschauen, sagt Reinhard Ruso, und man kann schon mit einfachen Mitteln helfen, ohne sich in Gefahr zu bringen; mitunter macht man sich strafbar, wenn man nichts tut. Reinhard Ruso leitet das Referat "Allgemeine Kriminalprävention" im Büro Kriminalprävention und Opferhilfe im Bundeskriminalamt, wo unter anderem österreichweit einheitliche Präventionsprogramme entwickelt, koordiniert und umgesetzt werden. Über 1.200 Präventionsbedienstete sind dafür im Einsatz. Reinhard Ruso war außerdem selbst jahrelang als Polizist in Wien im Einsatz und kann aus eigener Erfahrung berichten, was er tut, wenn er eine brenzlige Situation beobachtet und wie er eingreift, ohne dass eine Situation eskaliert.

Über gelebte Zivilcourage in der realen und digitalen Welt, ihre Bedingungen, ihre Erforschung und ihren Wert als wesentliche Säule der Demokratie, sprechen Anna Baumert und Reinhard Ruso als Gäste bei Barbara Zeithammer und unsere Hörerinnen und Hörer sind wie immer sehr herzlich eingeladen, sich an der Sendung zu beteiligen:

Was haben Sie bereits erlebt, wie haben Sie sich verhalten, wer hat Ihnen einmal geholfen?

Rufen Sie an unter 0800 22 69 79 live während der Sendung oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at

Service

Zivilcourage-Trainings bieten beispielsweise der Wiener Verein ZARA - Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit oder das Mauthausen Komitee an.

Sendereihe

Gestaltung

  • Barbara Zeithammer

Playlist

Urheber/Urheberin: Paul Simon
Titel: So beautiful or so what
Ausführender/Ausführende: Paul Simon
Länge: 04:07 min
Label: Hear Music

Urheber/Urheberin: Max Martin, Shellback, Taylor Swift
Titel: Shake it off
Ausführender/Ausführende: Taylor Swift
Länge: 03:39 min
Label: Big Machine Rec.

Urheber/Urheberin: Tracy Chapman
Titel:
Talkin' Bout a Revolution
Ausführender/Ausführende: Tracy Chapman
Länge: 02:42 min
Label: Elektra

weiteren Inhalt einblenden