Leer werden

28. März 2024, 06:57

Der Weg ins eigene Innere, den die Texte der Mystikerinnen und Mystiker anbieten, ist alles andere als harmlos. Er ist steinig, mühsam, qualvoll, gefährlich. Denn alles, was das Leben und den Alltag trägt - alle Vergnügungen und Ablenkungen, alle Überzeugungen und alles Wissen, alle Beziehungen zu anderen Menschen und selbst die Bindung an das eigene Selbst sind nach und nach abzulegen.

Der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz beschreibt diesen Prozess als Weg in eine dunkle Nacht. Auf diesem Weg setzt sich das mystische Ich der großen Leere aus, die auch die Psychoanalyse beschreibt und mit der frühkindlichen Entwicklung erklärt: In der Geburt beginnt sich das Kind von der Mutter zu trennen. Es wird selbstständig, gibt aber gleichzeitig die Geborgenheit auf, für die der Mutterschoß steht. So entsteht ein Gefühl des Mangels und der Bedrohtheit - eine Leere, die uns Zeit unseres Lebens begleitet.

Zumeist halten wir sie ganz gut in Schach. Doch manchmal pirscht sich die Leere heran: in Momenten der Langeweile oder der Einsamkeit, wenn wir in melancholische Stimmungen fallen oder hineinschauen in den Abgrund der Depression. Dann schleicht es sich ein, dieses Gefühl, dass alles sinnlos sein könnte. Dass es nichts gibt, was uns trägt.

Womöglich empfinden wir heute die Leere stärker als zu anderen Zeiten. Wo Religionen und Ideale ihre Überzeugungskraft verlieren, wo wir umgeben sind von virtuellen Realitäten und Deep Fake, da fällt es immer schwerer, etwas zu glauben oder an etwas zu glauben. Von der mystischen Tradition zu lernen heißt, die Leere als etwas zu akzeptieren, das zu unserem Leben gehört. Und womöglich können wir ihnen ja vertrauen, den Mystikern und Mystikerinnen, die auf dem Grund der Leere den absoluten Sinn gefunden haben.

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