Politische Mystik

29. März 2024, 06:57

Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, dass die mystische Tradition ein starkes politisches Moment hat. Weite Teile der christlichen Mystik entwickeln sich im Zuge der Armutsbewegung. Die innere Armut, nach der das mystische Ich sucht, findet ihre Entsprechung in einer freiwillig gewählten äußeren Armut - in der Abkehr von allem, was zum Leben nicht unbedingt notwendig ist. Allein diese Haltung mag in unserer konsumorientierten Welt freilich schon eine Provokation sein.

Doch die freiwillige Armut der Mystik ist mehr als individuelle Selbstbescheidung. Oft geht sie einher mit der Zuwendung zu denjenigen, die unfreiwillig arm sind, die leiden an Körper und Seele. Bis zum 20. Jahrhundert bedeutet dies keine Sozialkritik. Doch dann wird die Mystik mit Vertreterinnen wie Simone Weil oder Madeleine Delbrêl und später den mystikaffinen Theologien einer Dorothee Sölle oder eines Johann Baptist Metz politisch.

Den Schlüssel dazu bildet oft eine Christusmystik. Das mystische Ich verbindet sich mit Jesus Christus, dem nach christlicher Überzeugung Mensch gewordenen Sohn Gottes, der am Kreuz gelitten hat und so für die Leidenden in der Welt eingetreten ist. Wenn aber Gott selbst sich an die Seite der Leidenden stellt, ja selbst ein Leidender wird - wie könnte man dieser Begegnung anders gerecht werden, als ebenfalls für die Leidenden einzutreten?

Aus der Identifikation mit Christus erwächst, was Johann Baptist Metz eine "Mystik der offenen Augen" genannt hat: ein Blick auf die Welt, der dem Leiden von Menschen nicht ausweicht, sondern darin einen Anruf erkennt - an unsere Menschlichkeit. Eine so verstandene Mystik, sie wäre keine verschrobene Form einer selbstbezogenen Frömmigkeit. Sie wäre eine Ressource der Humanität.

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