DANIEL BISKUP
Gedanken für den Tag
Der leibliche Mensch
von Ahmad Milad Karimi, Religionsphilosoph und Islamwissenschaftler
14. Juni 2024, 06:57
Maria, die Mutter von Jesus aus Nazareth, spielt nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam eine wichtige Rolle. Sie scheint in vielfacher Hinsicht von Gott in Anspruch genommen zu sein.
Eine besondere Bedeutung gewinnt dabei ihre leibliche Selbsterfahrung. Es waren die Wehen, die sie ganz und gar in Anspruch nahmen, wie der Koran hervorhebt. Von Schmerzen erfüllt, wird sie gestehen: "O wäre ich zuvor gestorben und doch ganz und gar vergessen!" Ich kann ihren Schmerz nicht erfassen, aber ihre Worte gehen mir unter die Haut. Und sie bleiben dort, nehmen mich ganz in Anspruch.
Nicht in ihrer Seele, sondern in ihrem Leib entsteht und gedeiht Leben. Können wir die leibliche Natur des Menschen ignorieren? Religionen scheinen auf das Seelenheil der Menschen ausgerichtet zu sein. Ihr Versprechen, dass der Mensch Heil und Erlösung finde, bezieht sich nur selten auf die Leiblichkeit. Unsere leibliche Selbsterfahrung wird oft unserer seelisch-geistigen Bestimmung untergeordnet. Hat der Leib einen Eigenwert? Oder bedeutet er nur Hindernis, eine temporäre Hülle für die Seele? Gerade die religiöse Praxis im Islam, die rituelle Waschung, das Gebet, das Fasten und die Pilgerreise zeigen, wie tief der Glaube im Leib verankert ist.
Leiblichkeit stiftet Beziehung, Nähe, Berührung, Gemeinschaft und Intimität; sie gehört zur Vielfalt unserer Ausdrucksformen. Menschsein lässt sich nicht von der Verletzlichkeit und Berührbarkeit körperlicher Existenz trennen. Unsere Selbst- und Weltbeziehung sind körperlos nicht vorstellbar, ohne dabei unser Verständnis von uns zu verfremden. Leibvergessenheit und Leibfeindlichkeit haben konkrete Auswirkung auf unser Menschenbild und unsere Selbsterfahrung. Maria erfährt in ihrer Leiblichkeit eine Transzendenzerfahrung, die immer wieder die grundlegende Frage aufwirft, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Service
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Erik Satie 1866 - 1925
Album: ERIK SATIE: WERKE FÜR KLAVIER
* Lent et douloureux - Nr.1 (00:03:01)
Titel: 3 Gymnopedies für Klavier
Solist/Solistin: Aldo Ciccolini
Länge: 03:01 min
Label: EMI Classics 2530702