Starke Frauen von 1960

18. Juni 2024, 06:57

Kindheit ist kleinräumig. Man kehrt anders in sie zurück, als sie gewesen ist. Ich denke an den regelmäßigen Spaziergang zur Bäckereifiliale in der Heinestraße, nahe dem Praterstern, dessen Namen mich wegen der Bezeichnung "Stern" in den Bann schlug und auf dem sich spärlich unbekannte Fahrzeuge bewegten, Ford Anglias oder hochbucklige Lizenz-Fiats. An einem unscheinbaren Gebäude prangen große rote Buchstaben S, P und Ö - damals, beim Spaziergang des Enkels an der Hand des Großvaters wie heute, beim Spaziergang der Enkelin mit mir.

Die Wiener Kindheit vor 1960, die war von starken Frauen geprägt, die wir Kinder hin und wieder in ihren Büros mehr zu Fuß als mit der Tram besuchen durften: die leibesmächtige Tante M., die als Geschäftsführerin einer internationalen Spedition am Anfang der Taborstraße residierte und vor der sich ihr Sekretär tief verneigte, oder die zierliche Tante A., die Schwester meiner Mama, die als Amtsrätin im Außenministerium ihren Dienst versah. Tante L. wiederum, die im 102. Lebensjahr in dem Haus starb, in dem sie geboren wurde, und nach dem Krieg beim Marshallplan für die Textilindustrie tätig war, wohnte auf der anderen Seite der Heinestraße, am Volkertmarkt, der sich heute traurig und verwahrlost ausnimmt.

Sie alle waren noch in der Monarchie, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, geboren. Der Krieg, dieser große Zerstörer, hat ganz ungewollt weibliche Selbstständigkeit gefördert, wurden doch Frauen gebraucht, die die Soldaten-Männer ersetzten. Alle entstammen sie Familien, die von der Peripherie der böhmischen Länder nach Wien gekommen sind. Meine Tanten waren robust-energische, konservativ-selbstständige Geschöpfe, die im familiären Pantheon das Heft in der Hand hielten.

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