Marias Blick

17. August 2024, 06:57

In der Geschichte des Christentums ist Maria so etwas wie ein kultureller Speicher geworden. In Mariologie und Marienverehrung und auch in den künstlerischen Darstellungen wurde vieles aufgehoben, was herausgefallen ist - aus der Theologie, aber auch aus den übrigen Systemen des Wissens und der Macht. Dazu gehören nicht zuletzt Dimensionen, die gerne als "weiblich" bezeichnet werden, die aber eigentlich ganz grundlegend zum Menschsein gehören: der Körper, die Gefühle, Dimensionen von Zärtlichkeit und Verletzlichkeit. Es geht um Geburt und ein Maria zugesprochenes besonderes Verhältnis zur Natur. Und es geht auch um Mutterschaft.
Maria, so sagt es die französische Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Julia Kristeva, ist das vielleicht einzige Symbol der europäischen Kultur, das ein Identifikationspotenzial für Mutterschaft bietet. Sie meint damit nicht eine idealisierte Mütterlichkeit. Es geht ihr um Mutterschaft als zentrale Funktion menschlicher Existenz: um die Mutter, die einen unvertretbaren Platz einnimmt, insofern wir von ihr geboren wurden; um die Mutter als ersehnten, tatsächlich nie so gewesenen Ort von Heimat und Ganzheit; um die Mütter, die oft das erste Gegenüber des heranwachsenden Säuglings sind; und um die Mütter als Rollenmodelle, insbesondere von Töchtern, an die sie sich ebenso angleichen, wie sie sich (schmerzhaft) von ihnen absetzen.

Der Blick auf Maria bringt uns dazu, uns mit diesem eigenen fragilen Selbst auseinanderzusetzen - mit der eigenen Geschichte, der Bedeutung von Körperlichkeit, der Ambivalenz von Emotionen und mit der eigenen Sehnsucht. Es ist an der Zeit, uns mit Maria diesen Blick auf uns selbst zurückzugeben.

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