Zwischenruf
Was bedeutet die Idee von Gott für den Menschen
Matthias Geist, Superintendent der evangelisch-lutherischen Kirche in Wien, zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant
1. September 2024, 06:55
Es gibt ja manchmal diese Gedankenspielchen: Mit welcher verstorbenen Persönlichkeit würden Sie gerne auf einen Kaffee gehen? Elvis, Marie Curie oder Jesus von Nazareth? Ich mit allen von ihnen sehr gerne. Und gerade jetzt, im Umfeld seines 300. Geburtstages, mit Immanuel Kant.
Er steht auf der Liste meiner Lieblingsdenker ganz oben, weil er in der Philosophie eine entscheidende Wende geschafft hat. Kant weist nämlich darauf hin, dass nicht wir die Welt, wie sie ist, erkennen können. Vielmehr bestimmen wir selbst mit, wie wir die Welt beschreiben und erkennen können. Es bin also ich selbst, der sich seine Welt erst zurechtdenkt, damit ich mich in ihr zurechtfinde. Und das ist aus meiner Sicht hochrelevant für die Theologie. Ob Gott existiert oder nicht ist gar nicht die Frage, sondern was die Idee von Gott eigentlich mit uns macht. Diese Radikalkritik Kants hilft.
Drei Beispiele nenne ich. Wir neigen ja in kirchlichen Lebensäußerungen manchmal zu Ablenkungsmanövern, Machtspielchen und religiöser Folklore. Und betreiben nach Kant dabei bloßen Religionswahn und Afterdienst Gottes. Klingt hart, ist aber auch meine Erfahrung, wenn wir uns in, zugespitzt gesagt, unnötigem Götzendienst verlieren, statt die gelebte Botschaft von der Versöhnung unter uns Menschen zu üben. Das kritisiert die Jugend zurecht, wenn sie sich am Glaubensleben mancher Gruppen reibt.
Ein zweites Beispiel: Wir suchen oft, gedrängt durch die Leistungsgesellschaft, DIE Lebensoptimierung und finden dann aus dem Strudel der vermeintlichen Nützlichkeit gar nicht mehr heraus. Moralisch ist das nach Kant nicht. Weil nicht als allgemeine Maxime tauglich. Das verstehen junge Menschen, die ihre Zeit anders erleben möchten, als sich von früh bis spät ins Arbeitsleben zu vertiefen, nicht. Sie wollen auch Zeit für sich und ihresgleichen haben, eine lebenswerte Welt der Zukunft erhalten und gestalten.
Und ein Drittes, was mich im Bezug auf Künstliche Intelligenz und ebenso auf die Seelsorge hin irritiert. Menschen lassen sich nicht nach statistisch erhobenen Wesensmerkmalen kategorisieren, Seelsorge nämlich geht in die Tiefe und unterstützt im So-Sein, in der Konstruktivität des Lebens, in der Bewältigung. Vielleicht war Immanuel Kant für unsere Zeit zu moralisierend und von einer äußerst utopischen Reich Gottes-Vorstellung getrieben. Aber er hat dazu beigetragen, diese Welt anders kennenzulernen und nicht in ihrer Engführung sondern in einer kritischen und einzigartigen Sicht zu betrachten.
Kant schafft es, rationales Denken und theologische Praxis auf ganz neue Weise zusammenzudenken. Aus Wertschätzung für den Menschen, aus demokratiepolitischer Umsicht und aus meiner Lebenseinsicht und Überzeugung. Und zu dieser rät uns Immanuel Kant eigentlich jeden Tag. Er bleibt über die Jahrhunderte hinweg relevant.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Keith Jarrett
Album: THE CARNEGIE HALL CONCERT
Titel: Part 3/instr./live
III
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Piano
Länge: 04:44 min
Label: ECM Rec. 1989/90 / 9856224 (2 CD)