Zwischenruf

Über eine vergessene Pionierin

von Milena Heussler, evangelisch-reformierte Theologin

Ich rekonstruiere eine Lebensgeschichte. Ich sitze in Archiven, berühre altes Papier, so fragil, dass ich Angst habe, es mit meiner Suche zu zerstören. Ich schreibe Mails, um Zeitzeuginnen zu finden, versuche Handschriften zu entziffern. Ich sammle kurze Versatzstücke, kleine Einblicke in ein anderes Leben und empfinde Freude wie ein Kind, wenn mir ein vertrauter Name in den Papieren begegnet.

Dieser Name lautet Dora Herrmann. 1910 in Wien geboren, hat sie dort als eine der ersten Frauen evangelische Theologie studiert und in diesem Fach als allererste Frau Österreichs promoviert. Und dieses Pionierhafte zieht sich bei ihr durch: Als im Zweiten Weltkrieg evangelische Pfarrer zu Soldaten wurden und ihre Stellen unbesetzt waren, ergriff sie die Chance, eine Rolle auszufüllen, die bis dahin nur Männern vorbehalten war. Sie ging nach Tirol, um in Kufstein als evangelische Vikarin zu arbeiten. 1947 wurde sie dort zur ersten Pfarrerin Österreichs ordiniert.

Ich wünschte, die Geschichte könnte hier enden, mit Dora Herrmann als wegweisender Pionierin, glücklich am Ziel ihrer Reise angekommen. Doch ihr widerfuhr, was vielen Frauen widerfährt, die als erste in männlich dominierten Feldern sichtbar werden: Ihre Ordination wurde von der Kirchenleitung später doch nicht anerkannt, sie musste ihre Arbeit niederlegen, ihre Leistungen wurden vergessen. Dora Herrmann - bis vor zwei Jahren begegnete mir ihr Name weder im Studium noch im kirchlichen Zusammenhang, bis Theologinnen begannen, sich auf sie zu beziehen. "Danke, Dora!" heißt die Initiative, die auch mich auf ihre Spur brachte.

In der feministischen Literatur finde ich Antworten auf die Frage, wie ihr Name derart in Vergessenheit geraten konnte: Die Journalistin Stefanie Lohaus beklagt in ihrem Buch "Stärker als Wut" das Fehlen einer feministischen Erinnerungskultur, die mit der mangelnden Wertschätzung weiblicher Leistung in einer männlich beherrschten Welt zusammenhängt. Und die Historikerin Leonie Schöler erzählt in ihrem Werk "Beklaute Frauen" viele Biografien weiblicher Personen, die ebenso wie Dora Herrmann in ihrer Arbeit unter den ersten waren, Großartiges taten, aber wegen Widerständen ihre Tätigkeit aufgeben mussten, keine oder nur wenig Anerkennung erhielten und schlussendlich in Vergessenheit gerieten.

Biografien zu erzählen - diese oft mühevolle Arbeit voller Zweifel, ob man der historischen Person gerecht wird, sie ist für mich ein wesentlicher Beitrag dazu, an dieser Erinnerungskultur zu arbeiten, die noch immer zu schwach ausgeprägt ist. Eine Biografie zu schreiben, bedeutet, eine Geschichte zu erzählen. Und mit ihr den Raum zu öffnen für ein Gefühl der Dankbarkeit all diesen Pionierinnen gegenüber, und in ihr den Mut zu finden, selbst neue Wege zu gehen.

Service

Danke, Dora!

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Claude Bolling
Titel: Concerto for Classic Guitar and Jazz Piano
Anderssprachiger Titel: Konzert für klassische Gitarre und Jazz Klavier
* Serenade
Solist/Solistin: Alexandre Lagoya /Gitarre
Solist/Solistin: Claude Bolling /Klavier
Länge: 04:47 min
Label: CBS FM MK37264

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