Punkt eins

Das Volk. Der Wille. Der Zusammenhalt.

Die Zumutungen der Demokratie? Gast: Univ.-Prof. Dr. Sylvia Kritzinger, Professorin für Methoden in den Sozialwissenschaften am Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien, Institutsvorständin. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Die Gesellschaft? Gespalten. Die Demokratie? Vielleicht doch überholt. Die Politik? Grabenkampf und Streiterei. Etwas hat sich geändert in den letzten Jahren, das lassen beliebte Diagnosen wie diese vermuten - und ob es stimmt oder nicht: es bleibt nicht ohne Folgen.

In manchen Erzählungen ist allerdings alles eindeutig: es gibt gut und böse, Gewinner und Verlierer, Mann und Frau, Stadt und Land, Freund und Feind, Volk und Elite, fremd und eigen, die da oben und die da unten. Es gibt keine Zweifel, klare Verhältnisse, eindeutige Grenzen, schnelle Lösungen. Es sind erfolgreiche Erzählungen der Populisten, laut Psychologie auch typische Reflexe in Krisen (der Wunsch nach Sicherheit), Reaktionen auf die Angst, abgehängt zu werden oder abgehängt zu sein. Das Aufstiegsversprechen greife nicht mehr, liest man in Analysen, das aufklärerische Freiheitsversprechen erscheine heute anstrengend, die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung auf Faktenbasis schwinde.

Jede:r hat heute zu allem eine Meinung - Klimawandel, Gendersternchen, Nahostkonflikt und Ukrainekrieg - und ist dafür oder dagegen und bleibt dabei - Auswüchse des neuen Medienzeitalters, befindet die Kommunikationswissenschaft; Empörung sei ein gutes Geschäft und erschwere Diskussionen. Demokratische Prozesse erscheinen mitunter langwierig oder werden so dargestellt, Kompromisse werden als Kuhhandel und Machtverlust inszeniert und das gemeinsame Interesse an einer Weiterentwicklung des "guten Lebens" für alle Mitglieder der Gesellschaft sinkt in dem Maße, wie Identitätspolitik zunimmt.

Die Demokratie hat sich verändert, sie ist unübersichtlicher geworden, sagt Sylvia Kritzinger, Leiterin des Instituts für Staatswissenschaft der Universität Wien. Die Parteienlandschaft hat sich vergrößert, die Zahl der Wechselwählerinnen und -wähler steigt, bestimmte, meist hochemotional umstrittene Themen dominieren den politischen Diskurs.

Der (ideale) demokratische Prozess aber kennt keine Gewinner und Verlierer und besteht in Kontroversen mit dem Fokus auf gemeinsamen Zielen ebenso wie konstruktivem Streit und dem Willen, sich dabei an Regeln zu halten. Was passiert, wenn diese Regeln systematisch ignoriert und ausgehebelt werden, indem Politiker beispielsweise falsche, der Wirklichkeit offensichtlich widersprechende Aussagen machen und Tatsachen wie Meinungen behandeln?

Auch die Gesellschaft an sich hat sich verändert, hält Sylvia Kritzinger fest: Eine moderne, demokratische Gesellschaft ist pluralistisch, es gibt eine große Vielfalt an Lebensweisen, individuellen Freiheiten, Weltanschauungen und Überzeugungen. Was passiert, wenn diese Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten ignoriert werden? Wenn das "Volk" an Stelle der Bevölkerung beschworen wird und Gemeinschaft und Gesellschaft verwechselt werden? Was ist von der vielgebrauchten "Spaltung der Gesellschaft" zu halten? Und was meint die Formel: Das muss eine Demokratie aushalten können?

Die Universitätsprofessorin Sylvia Kritzinger ist eine der Projektleiterinnen der AUTNES-Studie zur Wahlforschung und forscht zu politischem Verhalten und demokratischer Repräsentation. Als Gast bei Barbara Zeithammer analysiert sie die behaupteten und realen "Bruchlinien" der Gesellschaft und die Dimensionen eines Umbruchs der Demokratien.

Welche Folgen hat es, wenn ein Fünftel der Menschen in Österreich aus den sozialen Medien falschinformiert ist, aber überzeugt, dass ihr Falschwissen der Wahrheit entspreche? Wie kann wieder mehr Sachlichkeit und weniger Empörung im Diskurs über die großen Fragen Einzug halten? Und wie lassen sich der Zusammenhalt einer Gesellschaft und die Stabilität einer Demokratie in Zeiten der Umbrüche stärken?

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