Zwischenruf
Von Begegnung und Solidarität
von Thomas Hennefeld, Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich
19. Jänner 2025, 06:55
Von je her wurden Minderheiten aller Art, auch religiöse, zu Sündenböcken gemacht. So erging es der christlichen Gemeinde der ersten Jahrhunderte. Diese wurde aufgrund ihrer religiösen Rituale bezichtigt, Menschenfleisch zu essen und ihr Blut zu trinken.
Später wurden ähnliche Geschichten in christlichen Ländern auf die jüdische Minderheit übertragen. Mittelalterliche Ritualmordlegenden führten zu Pogromen und der Hass gipfelte in der Shoa, der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Daneben wurden im Nationalsozialismus auch andere Minderheiten wie z. B. Homosexuelle, Roma und Sinti verfolgt und ermordet.
Als Mitglied einer Minderheit, der evangelisch-reformierten Kirche, Zeit meines Lebens nicht diskriminiert, sondern privilegiert, habe ich ein hohes Ausmaß an Sensibilität entwickelt, was den Umgang der Gesellschaft mit anderen Minderheiten betrifft. Wo andere einen Witz oder eine abschätzige Bemerkung über Jüdinnen oder Muslime als Lappalie beiseite wischen, schrillen bei mir die Alarmglocken.
Im Rahmen des Projektes "Was glaubt Österreich" der multimedialen Abteilung Religion und Ethik im ORF wurden im vergangenen Jahr über 2.000 Personen zu ihren Glaubens-, Sinn- und Wertvorstellungen befragt. Ein Ergebnis war der Anstieg von Antisemitismus und von Islamfeindlichkeit. 39 Prozent halten christliche und islamische Werte für unvereinbar, rund ein Drittel stimmen der Aussage zu, dass sich heute in wachsendem Ausmaß "wieder Macht und Einfluss der Juden in der internationalen Wirtschaft, Presse und Politik" zeige. Und wie auch schon durch frühere Studien belegt, sind Antisemitismus und Islamfeindlichkeit dort besonders stark ausgeprägt, wo es wenig oder gar keine Angehörigen von Judentum und Islam gibt.
Die Religionssoziologin Regina Polak, die für die Studie mitverantwortlich ist, meinte, dass die Anerkennung von Minderheiten oder eben auch deren Nichtanerkennung ein Gradmesser dafür sei, wie es um die Qualität der Demokratie bestellt ist. Kirchen haben in den zwei vergangenen Jahrzehnten einiges dazu getan, um Vorurteile abzubauen, durch Bildungsarbeit, Begegnungen und gemeinsame Aktionen. Seit vielen Jahren gibt es Kooperationen zwischen Christentum und Islam im pädagogischen Bereich. In den vergangenen Tagen war der Tag des Judentums, zur Besinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums.
Ich bin überzeugt: Dort, wo Minderheiten unter Druck geraten, braucht es die Solidarität der anderen Religionsgemeinschaften. Es braucht auch einen konstruktiven Dialog, in dem ich mich mit dem Anderen kritisch auseinandersetzen kann. Immer aber müssen die Menschen einander respektvoll und auf Augenhöhe begegnen. "Alles Leben ist Begegnung" war das Lebensmotto des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Wo echte Begegnung stattfindet, können Samen gesät werden und Früchte reifen. Und nicht zu vergessen, Religionen bergen Schätze, mit denen sie zu einem friedlichen Zusammenleben und zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen können.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Georg Friedrich Händel
Titel: Suite für Cembalo Nr.2 in F-Dur HWV 427
* Adagio - 1.Satz (00:02:28)
Cembalosuite
Solist/Solistin: Glenn Gould /Cembalo
Länge: 02:29 min
Label: CBS MPK44841