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Punkt eins
Serbien vor Neuwahlen?
15 Minuten für 15 Tote und den Rechtsstaat: Neue und alte Konflikte in Serbien. Gast: Univ.-Prof. Dr. Florian Bieber, Politikwissenschaftler, Zentrum für Südosteuropastudien, Universität Graz. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at
30. Jänner 2025, 13:00
"Um Spannungen abzubauen", sei er zurückgetreten, sagte Serbiens Ministerpräsident Milos Vucevic auf einer Pressekonferenz am Dienstag. Am Dienstagabend sprach dann Serbiens Präsident Aleksandar Vucic erstmals von der Möglichkeit einer Regierungsumbildung oder vorgezogenen Neuwahlen. Seit November finden täglich Demonstrationen gegen die autoritär agierende Regierung und für mehr Rechtsstaatlichkeit in Serbien statt, an denen sich Zehntausende Menschen aus allen Bevölkerungsschichten beteiligen.
Täglich um 11.52 Uhr blockierten zunächst vor allem Studierende in Belgrad - nun landesweit - für 15 Minuten die Straßen, um jener 15 Menschen im Alter zwischen sechs und 74 Jahren zu gedenken, die beim Einsturz des Bahnhofsvordachs in der zweitgrößten serbischen Stadt Novi Sad am 1. November 2024 Leben kamen. Am Freitag fand ein Generalstreik statt, an dem sich Zehntausende beteiligten. Immer wieder werden die Demonstrierenden angegriffen, Menschen schwer verletzt. Ministerpräsident Vucevic begründete seinen Rücktritt damit, dass ein Schlägertrupp der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) mehrere Studierende attackiert und verletzt hatte. Die Protestierenden fordern keinen Rücktritt, sondern die vollständige Aufklärung des Dacheinsturzes, der sinnbildlich für das korrupte System der Regierung Vucic steht: Der Bahnhof war erst im Rahmen der chinesischen "Neuen Seidenstraße" unter Beteiligung chinesischer Firmen "renoviert" worden. Am Dienstag trat auch der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Duric, zurück.
Die Kritik am mittlerweile sehr umstrittenen Präsidenten Vucic ist umfangreich: Seine Fortschrittspartei habe jede Stadt im Land durchdrungen, alle kontrollierenden Strukturen von der Gewaltenteilung über die Medien, den Justizapparat bis zum Parlament ausgehöhlt. Ende April oder Anfang Mai könnte es Neuwahlen geben, ließ Vucic wissen; die Opposition fordert eine Übergangsregierung, um freie und faire Wahlen durchführen zu können und Wahlbetrug wie 2023 zu verhindern - das lehnen Vucic und die SNS ab.
Auch alte Konflikte im Land sind derzeit wieder aufgeflammt: Im Kosovo, seit Februar 2008 für unabhängig erklärt, von Serbien aber nicht anerkannt, geht Ministerpräsident Albin Kurti gegen Serbiens Präsenz im Land vor. Jüngst - wenige Tage vor den Parlamentswahlen am 9. Februar - ließ Kurti in mehreren Gemeinden die Stellen der serbischen Parallelverwaltung schließen. In der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Landesteil Bosnien-Herzegowinas, droht Präsident Milorad Dodik immer wieder mit der Abspaltung und feierte jüngst einen verbotenen Jahrestag, mit hochrangigem Besuch aus Serbien.
Konflikte gibt es aktuell auch mit Kroatien: Nach der Ausweisung mehrerer junger EU-Ausländer am Freitag vor einer Woche aus "Gründen der nationalen Sicherheit" ist ein diplomatischer Streit entbrannt. Kroatien gab eine Reisewarnung aus und auch Österreich hat gegen das Vorgehen Serbiens protestiert. In Kroatien hatte sich vor zwei Wochen, am 12. Jänner, in der Stichwahl um das Präsidentenamt Amtsinhaber Zoran Milanovic mit klarer Mehrheit durchgesetzt. Auch er agiert zunehmend populistisch.
Der wachsende Einfluss Russlands und die Zunahme russischer Propaganda am Westbalkan sind ebenso eine Herausforderung wie die Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump, der in seiner ersten Amtszeit mit kontroversen Vorschlägen für die Region aufgefallen war, wie
beispielsweise zum Konflikt zwischen Serbien und Kosovo. Werden autoritäre Tendenzen weiter gestärkt, wirkt sich das auch auf die Strukturen aus, "die Geschäft, Politik und eigene Macht verquicken", sagt Florian Bieber, der die Ereignisse in der Region seit Jahren aufmerksam verfolgt. Was das für die jungen Demokratien und den Rechtsstaat sowie die alten und neuen Konflikte bedeutet?
Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Osteuropa Studien an der Universität Graz, spricht als Gast bei Barbara Zeithammer über die aktuelle Lage in Serbien, die Spannungen in der Gesellschaft und die Perspektiven des Dialogs und der Konfliktlösung.
Wie immer sind Sie, unsere Hörerinnen und Hörer herzlich eingeladen, sich an der Sendung mit Fragen und Statements zu beteiligen: unter 0800 22 69 79 (kostenfrei aus ganz Österreich) oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at
Sendereihe
Gestaltung
- Barbara Zeithammer