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Gedanken für den Tag
Michael Hamburger im Morgennebel
Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, zum Welttag der Poesie
22. März 2025, 06:57
Mitten am Morgen glimmt
Eine schwache Scheibe, Geistersonne
Durch Feuchtigkeit, die hängt und haftet.
Ein Blatt zittert, ein Schmetterling
Auf Flimmerflügeln
Wird sichtbar, erhebt sich mutig.
Dieses sechszeilige Gedicht von Michael Hamburger hat es mir angetan. Ich habe es wieder gelesen, weil gestern der Welttag der Poesie gefeiert wurde und dieses kurze Gedicht in seinen sechs Zeilen und zwei Sätzen alles hat, was Poesie ausmacht: Rhythmus, eine Musik durch Gleichklänge am Wortanfang, die Unterbrechung der Sätze durch die Enden von Verszeilen und überraschende Worterfindungen. An all dem hat auch Peter Waterhouse seinen Anteil, der den Zyklus übertragen hat, aus dem dieses Gedicht stammt: "Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse".
Das ganze einzigartige Werk von Michael Hamburger wurde aus dem Englischen übersetzt, denn er musste 1933 als Neunjähriger mit seiner jüdischen Familie aus Berlin nach London fliehen. Dort wurde er zum herausragenden Übersetzer von Hölderlin, Goethe, Rilke und auch von moderner Poesie. Seine eigenen Gedichte schrieb er in der Sprache des Landes, dem er seine Rettung verdankte - auf Englisch.
"Traumgedichte", "Das Überleben der Erde" oder "Baumgedichte" heißen einige seiner Gedichtbände auf Deutsch. Wie schon die Titel signalisieren, hat er immer die Mitwelt im Visier, richtet seinen Blick auf Pflanzen und Tiere. Hamburger hat sehr früh Bilder gefunden für die Zerstörung der Natur, die Bedrohung des Klimas und die Welt der Tiere. In einem Gedicht des Zyklus "Aus dem Tagebuch der Nicht-Ereignisse" geht er so weit, von einem Gebet der Tiere zu sprechen, das gehört werden soll. Jetzt, wo das Osterfest schon fast vor der Tür steht, fallen mir seine ersten Zeilen ein:
Zu Ostern ist im Morgennebel
Ein Gebet erblüht
Das in Menschenwörtern nicht mehr ausgesprochen werden kann.
Service
Gedicht, Michael Hamburger, "Mitten am Morgen", Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse, Folio Verlag
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