Zwischenruf

Vom Wert der Erinnerung

von Tina Walzer, Historikerin und leitende Redakteurin der jüdischen Kulturzeitschrift "David"

Warum ist es heute wichtig, Fragen über das Vergangene zu stellen?
Was bedeutet es für die Gegenwart, sich zu erinnern?
Welche Bedeutung haben Freiheit und Unfreiheit für die Generationen?
Fragen wie diese gehen mir rund um das Pessachfest durch den Kopf.

Pessach erinnert an das Erlangen der Freiheit, an die Überwindung der Sklaverei. Das historische Volk Israel wurde aus der Unterdrückung in Ägypten herausgeführt, so berichtet es die Bibel. Die Kernaussage dabei ist für mich das Übernehmen von Verantwortung dafür, aus der Sklaverei zu entkommen, die gemeinsame Anstrengung. Es geht hier um die gemeinschaftliche Leistung in der Gruppe und um das gemeinsame Gestalten einer besseren Zukunft.

Anhand einer Anleitung aus einem speziellen Buch für ein festliches Familien-Ritual, der Pessach-Haggada, wird in einem Rollenspiel die Verfolgungserfahrung im Kreis der Familie noch einmal durchlebt. So die jüdische Tradition zu Pessach. Gerade die Kinder sind eng eingebunden in das Nacherleben und Nachempfinden der Errettungsgeschichte, aus der Sklaverei.

Dazu werden an bestimmten Stellen der Erzählung ganz bestimmte Speisen und Getränke verzehrt. Sie versinnbildlichen die verschiedenen Stationen der Befreiung. Diese Symbole für Verfolgung und Befreiung werden gekaut, geschluckt und verdaut. Verfolgung und Befreiung werden von Körper und Seele durch das Erinnern verarbeitet. Das Verzehren des ungesäuerten Brotes dient als Erinnern an Zeiten der Not, gerade in Zeiten des Wohlergehens und des Überflusses. Als Ermahnung, dass die Freiheit nur aus der Not heraus erkämpft wurde. Als Ermahnung gegen Verschwendung und als Ermahnung, für die Not der anderen immer ein offenes Ohr zu haben. Als Ermahnung, dass sich die Verfolgung wiederholen kann. Und als Erinnerung daran, die Hoffnung auf Freiheit nicht aufzugeben.

Wir erleben gerade unruhige Zeiten. Demokratische Grundwerte - Freiheit, Gleichheit und - werden vielfach infrage gestellt. Und der Wert des Friedens wird nicht mehr unbedingt über alle anderen politischen Ziele gestellt. Wird er jetzt für weniger wichtig gehalten als noch eine Dekade zuvor? Auch der Friede zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, die zusammenleben, erscheint brüchig: Konflikte werden oftmals lieber geschürt und angeheizt, statt den Dialog, den tragbaren Kompromiss zu suchen.

Die traumatischen Erfahrungen der Generationen, die den Zweiten Weltkrieg und die Shoah miterlebt haben, sind aus dem unmittelbaren Gedächtnis der Gegenwart verschwunden. Ich habe die Erzählungen der Großeltern und Eltern von der schrecklichen Zeit noch im Ohr, aber die meisten Menschen, die heute hier leben, die vierte, fünfte Generation, kennen sie nicht mehr, denn sie haben sie nie gehört. Mit dieser unmittelbaren Erfahrung von Tod und Leid aus dem Mund der Angehörigen ist auch die Angst davor verschwunden.

Für mich ist Pessach ein Auftrag, sich zu erinnern: auch daran, was Antisemitismus, Verfolgung, Gewalt und Krieg anrichten können. Daran, was Menschen versklavt - und daran, was sie in die Freiheit führt.

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Joseph Haydn
Titel: Sonate für Klavier Nr.47 in h-moll Hob.XVI/32
* Allegro moderato - 1.Satz (00:06:40)
Solist/Solistin: Alfred Brendel /Klavier
Länge: 06:46 min
Label: Philips 4122282

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