Tote Körper, Opfer aus den Konzentrationslager Belsen

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Punkt eins

Tote, wie Brennholz gestapelt

Über Bilder vom Leiden anderer und kritische Fragen zu Geschichte und Gegenwart eines fotografischen Genres. Gast: Dr. David Krems, Medienarchivar, Lehrbeauftragter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Wien. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

"Nichts, was ich jemals gesehen habe - ob auf Fotos oder in der Realität -, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah und die Zeit danach", schrieb die US-amerikanische Philosophin Susan Sontag 1977 über ihre "persönliche Urszene" in einer Buchhandlung im Juli 1945, wo sie zufällig Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern Dachau und Bergen-Belsen sah. Noch Jahrzehnte später fragte sie sich, wie wir "das Leiden anderer betrachten" und welchen Anteil die Fotografie daran hat - Fragen, die wir uns heute ebenso stellen müssen.

Ausgemergelte, geschundene Körper in Lumpen, Berge von Menschenknochen und Schuhen, Tote, die wie Brennholz gestapelt sind: Ausschwitz, Dachau, Mauthausen - es sind Bilder von unfassbarem Leid, die mit der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager durch die Alliierten vor 80 Jahren die Weltöffentlichkeit stückweise erreichen und langsam das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes sichtbar machen.

"Macht Fotos, macht Filme, holt die Zeugen", wies der damalige US-General und spätere US-Präsident Eisenhower die Soldaten und begleitenden Fotografen an, diese Verbrechen zu dokumentieren. "Believe it!" (Glaubt es) titelte die Vogue eine Bilderstrecke der Kriegsfotografin Lee Miller aus dem KZ Buchenwald.

In diesen Tagen des Gedenkens an Millionen systematisch ermordete Menschen und das offizielle Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, sind aber auch Bilder gegenwärtig, die in Konzentrationslagern gemacht wurden. Sie zeigen Menschen unmittelbar, bevor sie ermordet wurden. Und sie mischen sich mit Fotografien aus den Konflikt-, Krisen- und Kriegsgebieten der Welt und KI-generiertem Inhalt, mit allerlei "Content" wie Tiervideos und Memes auf den digitalen Plattformen und in den Timelines der Smartphones der Gegenwart.

Wie reagieren wir auf Bilder, die das Leiden der anderen zeigen? Stumpfen wir ab? Was können diese Bilder leisten? Welche Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Gegenwart fordern sie von uns in einer Zeit, in der es kaum noch Zeug:innen gibt, die das Grauen schildern können, und in der in den digitalen Netzwerken die Geschichte immer stärker umgedeutet wird? Können Bilder des Grauens den Krieg und das Leid der anderen in irgendeiner Form begreiflich machen?

"Manche Leute haben lange geglaubt, wenn man das Grauen nur anschaulich genug darstelle, würden die meisten Menschen die Ungeheuerlichkeit und den Wahnsinn des Krieges schließlich begreifen", schreibt Susan Sontag in ihrem berühmten Essay "Das Leiden anderer betrachten" und warnt davor, die Möglichkeiten der Fotografie zu überschätzen. "Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können." Doch das Bild allein sagt nicht genug; es wartet, wie sie anmerkt, "auf eine Bildlegende, die es erklärt - oder fälscht".

Unter dem Titel "Das Leiden anderer betrachten" lehrt David Krems an der Universität Wien über die Geschichte der Kriegs- und Konfliktfotografie und die Aktualität des fotografischen Genres. Derzeit arbeitet der Lektor und Medienarchivar an einer Publikation über den Spanischen Bürgerkrieg, dessen Beginn sich im Jahr 2026 zum 90. Mal jährt. In einem in Kürze erscheinenden Themenheft geht es um Fotografien als Propagandamittel während des Krieges ebenso wie die Rolle der Fotografie in der Erinnerungspolitik bis zur Gegenwart.

David Krems spricht als Gast bei Barbara Zeithammer über Bilder und ihre Geschichte, Ikonen der Kriegsfotografie, die seit ihren Anfängen Fragen nach Authentizität und Inszenierung, Propaganda, Sensationslust, Ästhetik und Instrumentalisierung aufwirft und über das Bild vom Leid der anderen in Geschichte und Gegenwart und uns, die wir es betrachten. Diskutieren Sie mit unter 0800 22 69 79 oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at

Service

Hörtipp: Moment, Donnerstag, 08. Mai, ab 15:30 Uhr: Das fast vergessene KZ Gunskirchen

Buch-Hinweis:
Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hanser-Verlag, München

Ankündigung:
Die Publikation "Propaganda und Erinnerung. Fotografie im Spanischen Bürgerkrieg" ist ein Themenheft der Reihe FOTOGESCHICHTE und wird demnächst erscheinen.

Das Auschwitz Album auf den Seiten von Yad Vashem - Internationale Holocaust Gedenkstätte

Veranstaltungen:
Das Fest der Freude 2025 findet am 8. Mai 2025 um 19:30 Uhr am Wiener Heldenplatz statt. Es wird auch dieses Jahr international und mit englischen Untertiteln auf den Online-Plattformen des Mauthausen Komitee Österreich gestreamt und von ORF III ab 19:35 Uhr österreichweit übertragen.

Programm österreichweit

Global Peace Photo Award 2025: Send us your entry and show us: What does peace look like? Deadline is 18 May 2025!

Ö1 Schwerpunkt: 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg
Ö1 Schwerpunkt: 80 Jahre Zweite Republik

Sendereihe

Gestaltung

  • Barbara Zeithammer

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