Radiogeschichten
Mein privates Glück!
Michael Köhlmeier erzählt die Geschichte seiner Eltern - in vier Radiogeschichten
Teil 4: Rückkehr von Coburg nach Vorarlberg
27. Mai 2025, 11:05
Als Michael Köhlmeiers Mutter Paula bei der Geburt ihres dritten Kindes ins Koma fällt, werden er und seine Schwester zu Paulas Großmutter nach Coburg gebracht. Dort leben auch seine Tante Martha und sein Onkel Herbert. Michael Köhlmeier ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt, seine Schwester eineinhalb Jahre älter. "Ich bin in einer absolut erzählsüchtigen Familie aufgewachsen, ich war derjenige, der am wenigsten erzählt hat. Ich habe mich mal in dem Klo eingesperrt, damit ich nicht dauernd die Erzählungen hören musste. Meine Mutter, die von früher erzählt hat, das war für sie die Zeit vor dem Koma, als sie noch gehen konnte, meine Großmutter, die von der Zeit vor dem Krieg erzählt hat und die alle Märchen kannte - sie konnte dabei zwischen realem und nicht realem nicht unterschieden. Mein Vater, der immer aus der Geschichte erzählte, weil er sich gedacht hat, das anständige Leben eines Sohnes ist das Leben eines Historikers. Und meine Schwester war eine fanatische Leserin, mit fünf konnte sie schon lesen, hat sich jede Woche ein Stapel Bücher aus der Leihbibliothek ausgeliehen und hab mir immer die Bücher erzählen wollen, die sie gelesen hat. Und ich habe mir lange gedacht: wieso soll ich lesen lernen? Meine Schwester erzählt mir eh alles. Also, ich bin vor den Erzählern geflüchtet," sagt Michael Köhlmeier.
Wen Michael Köhlmeier als Kind sehr liebt und wem er unglaublich gerne zuhört, das ist sein Onkel Herbert, ein ruhiger Mann, der in einem Kaufhaus arbeitet und immer beim Spazierengehen zu erzählen beginnt. Er liebt Amerika, kennt alle 50 Bundesstaaten und berichtet dem Buben von dem Häuptling Sitting Bull oder von dem Crazy Horse Memorial. Und dann, eines Tages, soll Michael sein Sonntagsgewand anziehen, einen Matrosenanzug, den seine Tante Martha genäht hatte. Die Familie fährt von Coburg ("ich habe nur schöne Erinnerungen daran") nach Vorarlberg. "Dann standen wir in Lindau am Bahnhof, meine Schwester, meine Oma und ich und da kam uns ein Mann entgegen. Der Mann hat meine Schwester hochgehoben, die hat gleich gequietscht, hat ihr Köfferchen fallen lassen und hat ihre Fingerchen hinter seinem Nacken verschränkt und dann hat er meine Großmutter begrüßt." Dieser Mann ist Michael Köhlmeiers Vater Alois "Wise" Köhlmeier, an den er sich nicht mehr erinnern kann. Als er nach Hause kommt, liegt seine Mutter Paula im Bett. Sie wird die anderen fragen: "Hat ihm denn niemand gesagt, dass ich die Mutter bin? Alle haben vorausgesetzt, ich weiß, das ist meine Mutter, aber ich wusste es nicht."
Als ich Michael Köhlmeier auf den Titel seiner Erzählung anspreche, sagt er: "Das tiefste Glück ist immer die Kindheit. Daraus bezieht man, wenn sie gut gelaufen ist, alles für später. Sie ist wie eine Schale aus der das weitere Leben entspringt. Und mein tiefstes privates Glück hat seine Wurzeln in diesem Coburg."
Nach zwei Stunden klappt Michael Köhlmeier sein dickes, schwarzes Buch zu und mit ihm die Erinnerungen, die es enthält.
Sendereihe
Gestaltung
- Elisabeth Weilenmann