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Gedanken für den Tag
Thomas Mann schreibt die Bibel neu
Gedanken von Hosea Ratschiller, Kabarettist, zum 150. Geburtstag von Thomas Mann
6. Juni 2025, 06:57
Was schenkt man jemandem, der schon alles hat? Heute wäre Thomas Mann 150 Jahre alt geworden und nachdem noch Menschen leben, die ihn gut kannten und gern mochten, wollen wir vom zweiten großen Erzähler unter den Versicherungsangestellten neben Franz Kafka an seinem Ehrentage nicht so flapsig sprechen, als wäre er schon aus Marmor.
Aber folgende Frage sei gestattet. Wenn einer die Bibel neu schreiben will, was ist da los? Wieso arbeitet man sich 16 Jahre lang durch mythologische und historische Quellen, um das Alte Testament von innen zu beleuchten? Ich behaupte, "Joseph und seine Brüder" ist gleichzeitig die bedeutendste und unterschätzteste Satire der deutschen Literatur. Schon Goethe wusste, dass Aufklärung allein nicht reichen würde, um den Widerstreit aufstrebender Massen und beharrender Obrigkeiten in friedliche Bahnen zu lenken.
Wer Frieden, Freiheit, Eierkuchen will, muss an Mythen und Märchen ran. Wie Thomas Mann in seiner Joseph-Tetralogie der Bibel die Apokalypse austreibt und den Fortschritt einhaucht, ist eine humanistische Glanzleistung, bei der jedem Autoritären die Knie schlottern. Genau dafür sind diese Bücher gedacht. Und sie haben ihre Wirkung nicht verfehlt. "Joseph und seine Brüder" wurde von der präfaschistischen Literaturkritik im Deutschland der frühen 30er so gründlich niedergeschrieben, dass diese wegweisende Satire bis heute als weihevolle Fingerübung zur Seelentröstung eines gut bestallten Intellektuellen im Exil gilt.
In ihrem Furor gegen Sozialreformen des New Deal erkannten auch die reaktionären Behörden der McCarthy Ära in den USA die Sprengkraft einer Mythologie der Möglichkeit von Fortschritt und ekelten Familie Mann aus dem Land. Wer also lernen will, wie man Faschisten zur Weißglut bringt, hat eine vergnügliche Sommerlektüre vor sich.
Service
Thomas Mann, "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher", S. Fischer Verlag 2002
Dieter Borchmeyer, "Thomas Mann. Werk und Zeit", Verlag Insel 2023
Michael Maar, "Das Blaubartzimmer. Thomas Mann und die Schuld", Rowohlt Verlag 2025
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Sendereihe
Gestaltung
Übersicht
Playlist
Komponist/Komponistin: Frederic Chopin 1810 - 1849
Album: CHOPIN - WALZER
Titel: Walzer für Klavier in cis-moll op.64 Nr.2
Solist/Solistin: Dimitri Alexeev
Länge: 01:10 min
Label: EMI 7475012