Radiokolleg

Gemeinsam erinnern (1)

Was Kinder nach 1945 erlebt haben

Menschen, die rund um das Jahr 1945 geboren wurden, gehören zur letzten Generation, die selbst Geschichten aus der Nachkriegszeit erzählen können. In der Erinnerungsforschung sind daher 80-Jahre-Jubiläen besonders wichtig, denn sie markieren eine Generationenschwelle. Diese noch lebendige Zeitzeugenschaft hat Ö1 mit dem Oral History Projekt "Gemeinsam erinnern" in den Mittelpunkt gestellt und am Telefon zugehört, was die Anrufer:innen als Kinder und Jugendliche zu Beginn der Zweiten Republik erlebt haben. Alle Geschichten über Zerstörung, Gewalt, Not, Solidarität; Hoffnung und Neustart sind auf der Erinnerungsplattform oe1.orf.at/zweiterepublik zu hören und zu lesen. Eine Auswahl bringt das 3-teilige Radiokolleg Spezial, das auch die Bedeutung von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskulturen ganz grundsätzlich thematisiert.

"Das werde ich nie vergessen, als die Mutter uns Kindern einen Teller Suppe auf den Tisch gestellt und geweint hat," erinnert sich Manfred Golda, Jahrgang 1941, aus Klagenfurt an gekochtes Wasser mit ein bisschen Mehl, Kümmel und Salz. Diese Suppe war alles was sie ihnen geben konnte.
Kindheitserinnerungen aus der Nachkriegszeit haben Anruferinnen und Anrufer aus ganz Österreich - von Bludenz bis Gols im Seewinkel - im Rahmen des Ö1 Oral History Projekts "Gemeinsam erinnern" geteilt. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die 1945-1955 aufwuchsen, berichten vom Mangel an Essen und einem schneereichen Winter ohne Schuhe, von minimalistischen Weihnachtsgeschenken und sorglosem Spielen in Bombenruinen, von der Heimkehr unbekannter Väter und einer plötzlich aufgetauchten neuen Bundeshymne in der Schule. Geschichten über den Kinderalltag zwischen Zerstörung, Not und den oft rettenden Einfallsreichtum der Eltern. "Die Zuckerstückerl am Christbaum waren sehr spärlich", erzählt Gerlinde. "Aber meine Eltern sind auf die Idee gekommen, auch kleine Holzstückerl einzupacken. Da habe ich suchen müssen, das war viel spannender."

Erinnerungen sind ein wertvoller Teil des Lebens. Sie entstehen von frühester Kindheit an und prägen unser Verhalten, oft auch unbewusst. Diese Erinnerungen werden mit den in dem Moment empfundenen Emotionen aufgeladen und im Gedächtnis verankert. Gerade diese subjektiven Erfahrungen machen die oft schwer vorstellbare Vergangenheit erlebbar. Die Kindheitserinnerungen aus der Zeit nach 1945 geben Einblick in eine Welt abseits kultureller oder politischer Dynamiken und bieten gerade für Schüler und Schülerinnen Anknüpfungspunkte, um in diese Zeiten einzutauchen. Denn für viele Kinder und Jugendliche beginnt das Verstehen der Nachkriegszeit nicht in den Archiven oder im Schulunterricht, sondern im eigenen Umfeld: durch die Erzählungen der Großeltern, durch alte Fotos, ein Spielzeug, ein Zugticket oder ein Tagebuch.

Gestaltung: Barbara Volfing, Claudia Unterweger, Sabine Nikolay, Ute Maurnböck
Redaktion: Ina Zwerger, Ute Maurnböck

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