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Radiokolleg
Gemeinsam erinnern (2)
Worüber gesprochen wurde - und worüber nicht
17. Juni 2025, 09:05
"Ein älterer Mann hat meine Mutter gefragt: Wo wollen Sie denn hin? Und die Mutti hat gesagt: Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht, ich muss nur das Kind auf die Welt bringen'." Als Vierjährige flüchtet Gertraud mit ihrer hochschwangeren Mutter im Frühjahr 1945 aus der sowjetischen Zone Richtung Westen. Hungrig und frierend stranden Mutter und Tochter auf dem Bahnhof von Bischofshofen, da bietet ein Passant überraschend Hilfe an, berichtet Gertraud: "Er hat gesagt: 'Ich bin ein Bauer aus Lienz und habe selbst zwölf Kinder. Kartoffel und Milch haben wir, wenn Sie zufrieden sind, dann können Sie kommen.' Bis heute ist der Sutter-Bauer mein Herrgott."
Familiengeschichten wie diese haben Anruferinnen und Anrufer aus ganz Österreich im März und April im Rahmen des Ö1 Oral History Projekts "Gemeinsam erinnern" geteilt. Geschichten über Zusammenhalt und gegenseitige Hilfe in der Nachkriegszeit - mitunter heroisierend und schöngefärbt - sind häufig Teil des Familiengedächtnisses geworden.
Doch so manches Erlebte aus der Zeit 1945 - 1955 ist lange im Verborgenen geblieben. Viele Kinder der Nachkriegszeit sind aufgewachsen mit traumatischen Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern. Trotz verdrängter Gewalt, Schuld und Scham sind diese Tabus oft bewusst oder unbewusst über Generationen weitergegeben worden. So berichtet Ö1 Hörerin Elisabeth vom großen Schweigen in ihrer Familie über die Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrer Heimatstadt Perchtoldsdorf. Wie schwer traumatische Erlebnisse der Elterngeneration das eigene Leben belasten können, vermittelt Anruferin Maria mit großer Emotion in der Stimme: "Meine Mutter ist mit 14 Jahren am Heimweg von einem amerikanischen GI vergewaltigt worden. Das Tragische ist, dass ihre eigene Mutter geglaubt hat, sie hätte sich "angeboten" und sie aus dem Haus geworfen hat. Das ist so grauslich, dass ich das gar nicht erzählen kann."
Erinnerungen sind keine statischen Momentaufnahmen, sondern werden durch das gesellschaftliche und mediale Umfeld beeinflusst - und auch durch das wiederholte Erzählen selbst. Oral History heißt die Forschungsmethode, mit der die emotionsgeladenen Erinnerungen an vergangene Zeiten gesammelt werden. Die Wissenschaft gewinnt so auch Einblick darin, was erinnert wird und wie Geschichte erinnert wird. Denn über vieles wird in der Familie oder der Gesellschaft auch geschwiegen. Scham wird aus dem Gedächtnis ausgeblendet oder umgedeutet. Schuldhaftes Verhalten wird auf äußere Umstände gelenkt. Schmerzhafte Erinnerungen werden tabuisiert. Dieses emotionale Schweigen findet sich bei Erlebnissen in der Zeit des NS-Regimes, des Zweiten Weltkriegs oder aus der Nachkriegszeit.
Gestaltung: Barbara Volfing, Claudia Unterweger, Sabine Nikolay, Ute Maurnböck
Redaktion: Ina Zwerger, Ute Maurnböck
Service
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Schweiger, Steicher, Pirker, Mit Zeitzeugen auf Spurensuche, Kral Verlag
Elisabeth Amann, Dieses bisschen Glück. Stationen einer rastlosen Kindheit und Jugend, 1941-1955. Böhlau Verlag
Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, C.H.Beck
Ernst Berger, Ruth Wodak, Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginalisierten Jugend, Springer VS
Gert Dressel, Johanna Kohn, Jesscia Schnelle (Hg.), Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie. Wien, Juventa
Karl Fallend, Unbewusste Zeitgeschichte. Psychoanalyse - Nationalsozialismus - Folgen. Löcker
Li Gerhalter, Tagebücher als Quellen, Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800, V&R unipress
Bernhard Gitschtaler, Geerbtes Schweigen. Die Folgen der NS-"Eutanasie". Otto Müller Verlag
Bernhard Gitschtaler, Daniel Jamritsch, Das Gailtal unterm Hakenkreuz, KITAB
Klaus Pumberger, Worüber wir nicht geredet haben. Arisierung, Verdrängung und Widerstand. Ein Haus und die Geschichte zweier Familien. StudienVerlag
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
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