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Punkt eins
Serbien: Proteste am Wendepunkt?
Kreativer Widerstand, Ausschreitungen und Perspektiven. Gäste: Vladan Jeremic, Künstler und Kurator; Aleksandra Tomanic, Politikwissenschaftlerin. Moderation: Marina Wetzlmaier. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at
16. Juli 2025, 13:00
Ein leerer Stuhl steht in einem Fenster der Fakultät der Bildenden Künste in Belgrad. Daneben der Schriftzug: "Die Studierenden haben sich erhoben". Eindringlich werde damit Kritik an der autoritär agierenden Regierung geübt und zugleich die Präsenz der Protestbewegung unterstrichen, schreibt der in Belgrad lebende Künstler und Kurator Vladan Jeremic. Gemeinsam mit seiner Partnerin Rena Rädle untersucht er die Zusammenhänge zwischen Kunst und Politik. Kreative Ausdrucksformen seien ein wesentlicher Bestandteil der Protestbewegung. Studierende bauten zum Beispiel ein Trojanisches Pferd, das sie zum Obersten Gerichtshof brachten. Als Symbol für die Täuschung durch das System. Anschließend wurde die Skulptur in der Galerie der Gesellschaft für Bildende Künste ausgestellt.
Die Proteste gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit dauern mittlerweile über acht Monate an. Die längsten in der Geschichte des Landes. Sie begannen als Reaktion auf den Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad, bei dem 16 Menschen starben. Ausgehend von den Studierenden und Universitäten fand die Bewegung in weiten Teilen der Gesellschaft Unterstützung. Auch in der serbischen Diaspora in Europa. Eindrucksvoll zeigte sich die Solidarität, als sich im April Studierende von Novi Sad aus mit den Fahrrädern auf den Weg zum EU-Parlament nach Straßburg machten. Auf ihrer Tour fuhren die Studierenden auch durch Österreich, wo sie von Mitgliedern der serbischen Diaspora und weiteren Unterstützer:innen euphorisch empfangen wurden. Wenige Wochen später legten Studierende laufend im Rahmen eines "Ultramarathons" die Strecke von Belgrad nach Brüssel zurück. Sie forderten die europäische Gemeinschaft dazu auf, Druck auf die serbische Regierung und Präsident Aleksandar Vucic auszuüben.
Bis heute fällt die Unterstützung vonseiten der EU für die Protestbewegung zurückhaltend aus. Serbien ist seit 2012 EU-Beitrittskandidat. Vucic unterhält zeitgleich Verbindungen zu Russland. Beobachter:innen sprechen von einer "Doppel-Strategie" und einer "Pendel-Politik". Im Jahr 2024 gingen Vertreter:innen der EU und die serbische Regierung eine "strategische Partnerschaft zu nachhaltigen Rohstoffen, Batterie-Wertschöpfungsketten und Elektrofahrzeugen" ein. Im Zuge dessen ist auch der Abbau von Lithium im westserbischen Jadar-Tal vorgesehen. Auch dagegen gibt es Widerstand vonseiten der Bevölkerung.
Die Protestbewegung brachte Serbien "zum Brodeln", schrieb die Politikwissenschaflterin Aleksandra Tomanic Anfang des Jahres. Viele sahen den Beginn von etwas Neuem, eine Demokratiebewegung, die Präsident Aleksandar Vucic ernsthaft herausfordert. Zuletzt stellten ihm die Demonstrierenden ein Ultimatum, Neuwahlen auszurufen. Stattdessen kam es bei einer Kundgebung am 28. Juni mit 140.000 Teilnehmenden zu Verhaftungen und Gewalt durch Polizeikräfte. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Richtung die Protestbewegung einschlagen wird. Anfangs wurde sie dafür gelobt eine gesellschaftsverbindende Wirkung zu haben. Allerdings fielen in den vergangenen Wochen einige Redner durch eine nationalistische Rhetorik auf.
Was bedeutet das für die Entwicklung der Protestbewegung, und welche Szenarien gibt es für die politische Zukunft Serbiens? Darüber diskutieren die in Belgrad lebende Politikwissenschaftlerin Aleksandra Tomanic und der Künstler Vladan Jeremic als Gäste bei Marina Wetzlmaier. Hörerinnen und Hörer sind wie immer eingeladen, sich an der Sendung zu beteiligen: Rufen Sie an unter 0800 22 69 79 (kostenfrei innerhalb Österreichs) oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at.