Ernst Jandl

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Gedanken für den Tag

Ernst Jandl und der Katholizismus

Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer, zum 100. Geburtstag von Ernst Jandl

längst schon versuche ich
die gängigsten gebete
zu rekonstruieren.

Dieser Dreizeiler steht in Ernst Jandls Gedichtband "peter und die kuh". Ich wollte wissen, warum nicht wenige seiner Gedichte ein Gebet rekonstruieren, parodieren oder verfremden.

Am 29. Jänner 1998 hat mich Ernst Jandl in seiner Wohnung zum Gespräch darüber empfangen. "Ich klebe an gott" hieß die Logos-Sendung, die daraus entstanden ist, denn als Erstes sprachen wir über das Gedicht "klebend", das eine Variation auf das Glaubensbekenntnis ist. "ich klebe an gott dem allmächtigen vater / schöpfer himmels und aller verderbnis" lauten seine ersten Zeilen.

Ernst Jandl erzählte, dass er sich als alter Mann wieder jenen Gebeten näherte, die er in seiner Kindheit auswendig gekonnt hatte: dem "Vater unser", dem "Ave Maria" und eben auch dem Glaubensbekenntnis. Er kommentierte das so: "Wenn ich sage, als alter Mann beginne ich mich diesen Texten wieder zu nähern, so zeigt das wohl eine Tendenz in mir, einen Anschluss an eine Zeit zu finden, in der ich als Kind auf naive Weise in meiner Religion gelebt habe, die noch immer die meine ist, die christliche Religion, die katholische Religion."

Von seiner Kindheit hat Ernst Jandl erzählt, von seiner Mutter, die starb, als er vierzehn Jahre alt war, und von ihrem rigiden Katholizismus, in dem sie ihn erzogen hat. Er sprach aber auch ganz offen über Momente der Verzweiflung, wie sie in folgendem Zweizeiler ihren Ausdruck gefunden hat: "lieber gott, beende meine sorgen / und erspare mir den nächsten morgen".

Die Texte, über die wir sprachen, hat Ernst Jandl auch gelesen, zum Beispiel ein Gedicht aus dem Band "stanzen" - ein Gebet im Wiener Dialekt, oder besser gesagt, ein Gebet im Konjunktiv, ein Gebet als vorgestellte Möglichkeit:

I kenntad zu gott beedn
ea soet me ned zadreedn
wia r an ölendichn wuamm
zwos waradn sä sohn am graiz gschduamm

Service

- Ernst Jandl, "mal franz mal anna", Gedichte, Reclam 2020
- Ernst Jandl, "Laut und Luise", Reclam 2025
- Ernst Jandl, "Werke in sechs Bänden" (Taschenbuch-Kassette), Luchterhand Literaturverlag 2016
- Ernst Jandl, "peter und die kuh", Gedichte, Luchterhand Literaturverlag 1996
- Ernst Jandl, "stanzen", Luchterhand Literaturverlag 1992
- Hans Haider, "Ernst Jandl 1925-2000. Eine konkrete Biographie", Verlag J. B. Metzler 2023
- "Ernst Jandl zum 100. Lieblingsgedichte", ausgewählt und kommentiert von Luchterhand-AutorInnen, Hrsg. von Christoph Bultmann, Regina Kammerer, Martina Klüver und Mirjam Spinrath, Luchterhand Literaturverlag 2025
- Bernhard Fetz, "Ernst Jandl. Biografie einer Stimme", Wallstein Verlag 2025

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Ratka
Gesamttitel: HALF A YEAR TOO EARLY - DEMO
Titel: Trashy Trudy/instr.
Solist/Solistin: Thomas Gansch
Solist/Solistin: Wolfgang Muthspiel
Solist/Solistin: Georg Breinschmid
Länge: 01:10 min
Label: Demo

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