Punkt eins

2015: Totes Kind, angespült am Strand

Minderjährige, Migration, Verantwortung und Ethik. Gast: Dr. Gottfried Schweiger, Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg, Mitglied des Fachbereichs Philosophie (KTH). Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

"Mit Wucht durch den Wahrnehmungspanzer" (Die Zeit). "Die Entdeckung der Moral" (FAZ). "Unerträglich" (Daily Mirror). Vor zehn Jahren, am 2. September 2015, wurde am Strand von Bodrum der Leichnam von Alan Kurdi angeschwemmt, ertrunken bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Er wurde zwei Jahre alt.

Ein Foto des toten Kleinkindes aus Syrien in einem roten T-Shirt und einer blauen Hose, das Gesicht im Sand, ging um die Welt, durch die sozialen Medien und die Presse und sorgte international, politisch und medial für Betroffenheit und Diskussionen. Wie kaum ein anderes Foto machte dieses das Elend von Migrantinnen und Migranten sichtbar. Was ist seither passiert? Wie diskutieren wir die Fragen, die das Foto damals geballt aufwarf, heute? Haben wir Antworten gefunden oder stellen wir die Fragen nicht mehr?

Dieser Tage verteidigte Angela Merkel ihren Satz "Wir schaffen das" und man fragt sich, was sie damals sonst hätte sagen sollen. Vor zehn Jahren, in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, entschied die damalige deutsche Bundeskanzlerin mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann, die Grenzen zu öffnen und Tausende Flüchtlinge einreisen zu lassen. Das Foto von Alan Kurdi war damals noch präsent und wurde viel diskutiert; auch stand die Weltöffentlichkeit noch unter dem Schock eines zweiten Unglücks: Am 27. August 2015 war ein ungarischer Kühl-LKW auf der Ostautobahn A4 bei Parndorf im Burgenland gefunden worden, in dem sich die Leichen von 71 erstickten Menschen befanden, darunter vier Kinder.

2024 kamen laut UN-Organisation für Migration fast 9.000 Menschen auf Fluchtrouten weltweit ums Leben, 2.500 davon im Mittelmeer, darunter Babys, Kinder; 2015 kamen im Mittelmeer geschätzt 3.800 Menschen zu Tode, allein in einer Woche im April 2015 starben 1.200 Menschen. Seit Jahren gilt die Mittelmeerroute als eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt, vom "Massengrab Mittelmeer" ist immer wieder die Rede.
Knapp 200.000 Menschen erreichten 2024 die Küsten Europas. Erst wenige Tage ist es her, dass wieder ein Bootsunglück im Mittelmeer gemeldet wurde, zumindest 69 Menschen starben.

Bilder von Flüchtenden, von Migrantinnen und Migranten und Aufnahmen aus den Krisenregionen und Kriegsgebieten der Welt erreichen uns täglich. Von manchen der Fotos scheinen wir zu erwarten, dass das Leid, das sie zeigen, Einfluss auf die Politik haben könnte - so war es damals auch bei der Aufnahme des ertrunkenen Alan Kurdi. 2020, fünf Jahre nach seinem Tod, fasste die Hilfsorganisation Save the Children in einem Bericht zu Kinderrechten in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik zusammen: "Sein Ertrinken sollte neue Maßnahmen zum Schutz von Migranten- und Flüchtlingskindern erwirken. Stattdessen sind sie heute, fünf Jahre später, oft schlechter dran".

Wie berühren uns Schicksale von migrierenden Kindern und Jugendlichen? Darf, muss, soll man ihr Leid zeigen? Welche Verantwortung haben Staaten - Stichwort: Kinderrechte - für Minderjährige auf der Flucht? Was schulden wir ihnen und was sind gerechte Ansprüche? Sollten migrierende Kinder politisch bevorzugt behandelt und beispielsweise zuerst aufgenommen werden (die politische Entwicklung geht indes in die gegensätzliche Richtung)?

Fragen wie diese stellt Dr. Gottfried Schweiger, Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg, Mitglied des Fachbereichs Philosophie (KTH). Seit Jahren arbeitet er zur politischen Philosophie und Sozialphilosophie mit den Schwerpunkten Armut, soziale und globale Gerechtigkeit, Migration, Kindheit und Jugend, Sport und kritische Theorie.

In dem Buch "Migration, Kindheit und die Grenzen der Gerechtigkeit. Was schulden wir minderjährigen Flüchtlingen?" (Erscheinungstermin 27.11.2025 in der Reihe Edition Politik im transcript Verlag) verhandelt Gottfried Schweiger gemeinsam mit Karoline Reinhardt zentrale Fragen zu diesem Thema.

Im Gespräch mit Barbara Zeithammer und den Hörerinnen und Hörern von Punkt eins gibt er Einblicke in die Diskurse und Antworten der Ethik. Reden Sie mit, stellen Sie Ihre Fragen, diskutieren Sie ethische und moralische Fragen rund um minderjährige Flüchtlinge, Migration und Verantwortung - telefonisch kostenfrei aus ganz Österreich live während der Sendung unter 0800 22 69 79 oder per E-Mail an punkteins(at)orf.at

Sendereihe

Gestaltung

  • Barbara Zeithammer