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Gedanken für den Tag
Eros und Thanatos
von Wolfgang Müller-Funk, Literaturwissenschaftler
20. September 2025, 06:57
Es gibt Grenzen, die wir vorfinden. Eros und Thanatos. Grenzen, die unsere Fantasien, Ängste und Sehnsüchte beflügeln. Grenzen, die Herausforderungen sind, die wir suchen. Grenzen, die nicht unbedingt ein Drüben haben, sondern Beschränkungen meiner Möglichkeiten sind, wie bei Expeditionen, beim Drachenfliegen, Fallschirmspringen oder beim Extrembergsteigen. Hier lautet die Frage: Kann ich das? Das Lukrieren einer Erfahrung, dass ich Grenzen aufgesucht habe, um an meine Grenzen zu kommen. Oder um mich zu spüren - wie in der Welt des Erotischen.
Die moderne Welt mit ihren vielen Regeln, Geboten und Grenzen beschert uns ein hohes Maß an Sicherheit. Sie engt uns freilich auch ein. Zum Ausgleich benötigen wir etwas, das Entgrenzung verspricht, ein Jenseits des Alltags. Kleine Utopien des Urlaubs, Rausch, esoterische Nischen, riskante Abenteuer.
Manche dieser zeitweiligen Ausstiege haben eine existenzielle Dimension. Bei einer gefährlichen Besteigung einer senkrechten Wand kommt eine spezielle Grenze zum Vorschein, der Tod. Er markiert eine unsichtbare Trennlinie, bei der es kein greifbares Dahinter, sondern scheinbar nur ein Nichts gibt. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. In Christoph Ransmayrs Roman "Der fliegende Berg" unternehmen zwei Brüder eine gefährliche Erstbesteigung auf einem Berg im Himalaya, beim Abstieg ist jeder für sich allein. Ob die Kräfte ausreichen und ob die Wetterlage hält, bleibt offen. In dieser Situation zwischen der Grenze von Leben und Tod geht es mehr als um die Überwindung eines schier übermenschlichen Hindernisses, nämlich um die Erfahrung von Realität, wie sie nur die Grenze ermöglicht.
Service
Wolfgang Müller-Funk, "Grenzen - Ein Versuch über den Menschen", Matthes & Seitz, Oktober 2025
Christoph Ransmayr, "Der fliegende Berg", Fischer
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Friedrich Smetana 1824 - 1884
Gesamttitel: MEIN VATERLAND - Zyklus symphonischer Dichtungen
Titel: Nr.6 Blanik
* Allegro moderato - Andante non troppo - Piu Allegro ma non molto - Tempo di marcia - Grandioso - Tempo I - Largamente maestoso - Grandioso meno - Allegro - Vivace
Anderssprachiger Titel: MA VLAST
Orchester: Wiener Philharmoniker
Leitung: James Levine
Länge: 14:16 min
Label: DG 4197682 (2 CD)