Radiogeschichten
Mexikanischer Hyperrealismus
"Ein Gefängnis wie im Film". Von Fernanda Melchor. Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar. Es liest Markus Hering.
2. Oktober 2025, 11:05
Das Gefängnis Ignacio Allende im mexikanischen Veracruz wird geräumt. Um zwei Uhr früh treibt man die Gefangenen mit Fußtritten aus den Zellen, manche dürfen bleiben, die meisten werden verlegt, dabei verschwindet ihre Habe, manche verschwinden auch selbst. Gleichzeitig beginnen die Dreharbeiten eines US-amerikanischen Films, der in einem mexikanischen Gefängnis spielt. Ein Zufall? Eine Geschichte aus dem neuaufgelegten Debütband "Das hier ist nicht Miami" der mexikanischen Journalistin und Romancière, der sich aus den journalistischen "Crónicas" und den "Relatos", berichtenden Erzählungen, zusammensetzt.
Entstanden sind die Geschichten, die vorwiegend in Veracruz spielen, zwischen 2002 und 2011, also zur Regierungszeit von Fidel Herrera Beltrán als Gouverneur von Veracruz (vom Forbes Magazin zu den 10 korruptesten Politikern Mexikos gezählt, mit Kontakten zum Drogenkartell Los Zetas) und von Felipe Calderón Hinojosa als Präsident Mexikos (in dessen "Krieg gegen die Drogen" die Mordrate um 193% stieg). Veröffentlicht wurden sie überwiegend in "Replicante", einer Online-Zeitschrift der mexikanischen Gegenkultur.
Bei der "crónica" handelt es sich um eine einzigartige lateinamerikanische Mischform aus subjektiver Reportage, Investigativ-Journalismus und Fiktion.
"Das einzige fiktionale Element, das ich diesen Erzählungen zugestehe, ist jenes, das jedes Konstrukt menschlicher Sprache durchdringt, vom Gedicht bis zum Zeitungsbericht: die Form der Erzählung, ihr Ordnungsschema. Die Wirklichkeit hat keinen richtungsweisenden, sinngebenden Willen. Weshalb jede Reportage, wie jeder Roman, immer in gewisser Weise "fiktiv" ist, eine künstliche Rekonstruktion, die man nicht mit dem Leben verwechseln sollte", schreibt Fernanda Melchor in ihrem Vorwort zu "Das hier ist nicht Miami".
Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz/Mexiko geboren, gehört zurzeit zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas. Für ihren Roman "Saison der Wirbelstürme" erhielt sie 2019 den Anna-Seghers-Preis sowie den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Zudem stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize, auch ihr jüngstes Buch "Páradais" (2021) wurde dafür nominiert.
Service
Fernanda Melchor, "Das hier ist nicht Miami". Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2025