Kodokushi, vereinsamte Wohnung eines alten Menschen in Japan, hängende Hemden und Vorhang, Tatamiwände

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Punkt eins

Krankmacher Einsamkeit und die KI-"Freunde"

Was den Schmerz der Einsamkeit lindert und wie man zu Gemeinsamkeit finden kann. Gäste: Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin Gutiérrez-Lobos, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Initiatorin der Plattform gegen Einsamkeit & Theo Löcker, Jugendbeauftragter gegen Einsamkeit bei der Plattform. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Sie gilt als unsichtbare Volkskrankheit, die WHO warnt vor einer Epidemie: Einsamkeit - ein subjektives Gefühl, keine Krankheit, doch sie kann krank machen und nimmt weiter zu. Gesellschaft und Politik sind gefordert und Tech-Konzerne sehen das nächste Milliardengeschäft: Sie konstruieren Chatbots als perfekte KI-"Freunde". Selbst brancheninterne Forschung warnt vor den Gefahren.

Wie kommt es, dass Einsamkeit heute als Epidemie bezeichnet wird? Ist sie nicht bis zu einem gewissen Grad völlig normal und wir haben in einer Zeit der Dauerberieselung, Likes und flüchtigen Kommentare vielleicht verlernt, mit uns selbst allein zu sein oder mit Enttäuschungen umzugehen? Ist es schlicht die paradoxe Tragik unserer Gegenwart, dass wir auf den digitalen Plattformen hunderte "Freunde" haben, aber immer weniger Zeit (und Kraft?) für echte Begegnungen? Was macht Einsamkeit gefährlich und Chatbots derart erfolgreich, dass sie millionenfach genutzt werden? Wo können Menschen zusammenkommen, wenn Wirtshaus, Post, Bank und Supermarkt im Ort geschlossen haben?

Jeder fünfte Mensch in Österreich fühlt sich regelmäßig einsam, Junge wie Alte, aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Einsamkeit ist ein komplexer Gefühlszustand, definiert als die empfundene Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen, und eine Querschnittsmaterie, sagt Univ.-Prof.in Karin Gutiérrez-Lobos. Ein ganzheitlicher Ansatz ist daher der Zugang der "Plattform gegen Einsamkeit", die die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie an der MedUni Wien vor bald fünf Jahren initiiert hat. Chronische Einsamkeit ist ein Risikofaktor für zahlreiche körperliche und psychische Erkrankungen, erhöht das Risiko eines ungesunden Lebensstils und geht mit einer geringeren Lebenserwartung einher.

Die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und die Gesellschaft sind beträchtlich und auch demokratiepolitisch relevant. Wenn Einsamkeit chronisch wird, entsteht rasch ein Teufelskreis, wie zahlreiche Studien belegen: Menschen werden sensibel gegenüber sozialen Kontakten, meiden sie aus Angst vor Zurückweisung und ziehen sich immer weiter zurück - nicht selten in die digitale Welt.

Erst vor wenigen Tagen zeigte eine Studie der US-Universität Harvard neuerlich auf, dass sich der Verzicht auf social media positiv auf die Gesundheit auswirken kann. Das ist nichts Neues, der Konzern Meta soll eine Studie, die psychische Schäden durch seine Anwendungen belegt, gestoppt haben, wie aus jüngst publizierten Gerichtsakten hervorgeht. 2018 machte die Whistleblowerin Frances Haugen publik, dass der Konzern weiß, dass er seine Nutzer:innen einsam macht.

Nun kommen Chatbots ins Spiel und das Geschäft läuft hervorragend, die KI ist als "bester Freund" auf eine möglichst enge emotionale Bindung programmiert. Sie bewertet nicht, erwartet nichts, ist immer da, nie genervt. Forschungen zeigen: Je mehr Zeit man mit der "Interaktion" mit derartigen Programmen verbringt, desto unverstandener fühlt man sich von echten Menschen. Echte Menschen bringen Plattformen keine Werbeeinnahmen; vor den Gefahren der Chatbots warnen selbst Fachleute aus der Branche; Regelungen werden dringend gefordert.

Was kann man der Verlockung von Chatbots und KI-Apps entgegensetzen; bis die Politik vielleicht Australiens Beispiel folgt? Das Land hat seit gestern, Mittwoch digitale Plattformen für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Braucht es ein Ministerium für Einsamkeit, wie Großbritannien es 2018 eingeführt hat? Was sind die strukturellen Ursachen von Einsamkeit und was die ersten Schritte, um zu bemerken, ob jemand einsam ist oder um selbst aktiv werden zu können?

Es gibt viele Initiativen gegen Einsamkeit, aber kaum jemand weiß davon, sagt Katrin Gutiérrez-Lobos. Die Plattform gegen Einsamkeit, Österreichs Anlaufstelle und Kompetenznetzwerk, sammelt sie in einer Datenbank. Auch wenn es oft scheint, als sei Einsamkeit ein Thema des Alterns: Junge Menschen sind ebenso betroffen und Theo Löcker ist Jugendbeauftragter der Plattform. Das macht er ehrenamtlich und unabhängig von seiner beruflichen Tätigkeit als Gemeinderat und Landtagsabgeordneter für die Wiener Grünen.

Katrin Gutiérrez-Lobos ist gemeinsam mit dem Jugendbeauftragten Theo Löcker zu Gast in Punkt eins und Sie, unsere Hörerinnen und Hörer sind wie immer herzlich eingeladen, von Ihren Erfahrungen zu erzählen, Ihre Fragen zu stellen: In welchen Lebenssituationen haben Sie sich einsam gefühlt? Wie beschreiben Sie Einsamkeit und wie haben Sie sie überwunden - oder es versucht? Was ist Ihr Befund zur Einsamkeit und wie gestalten Sie den Umgang mit Chatbots und KI-Apps?

Rufen Sie uns an, live während der Sendung unter 0800 22 69 79 (kostenfrei innerhalb von Österreich) - gerne auch anonym - und schreiben Sie uns gerne jederzeit ein E-Mail an punkteins(at)orf.at

Service

Plattform gegen Einsamkeit - Nationale Anlaufstelle und Kompetenznetzwerk.
Datenbank mit vielfältigen Angeboten in ganz Österreich

147 Rat auf Draht - rund um die Uhr, anonym, kostenlos

Oft braucht es nur ein offenes Ohr: 142 Telefonseelsorge - rund um die Uhr, anonym, kostenlos, auch schriftlich erreichbar im Sofortchat, via WhatsApp oder Mail.

Das Plaudernetz ist für alle da, die auf der Suche nach einem guten Gespräch sind: 05 1776 100

Sendereihe

Gestaltung

  • Barbara Zeithammer