Zwischenruf
Die Weisheit der Legenden
von P. Martin Lintner, Professor für Moraltheologie in Brixen
5. Oktober 2025, 06:55
Am vierten Oktober wird der Welttierschutztag begangen. Anlass ist der Gedenktag des heiligen Franziskus von Assisi. Er soll, so berichten verschiedene Legenden aus seinem Leben, ein besonders inniges Verhältnis zu Tieren gepflegt haben.
Vögel sollen seinen Predigten gelauscht haben und im Dorf Gubbio verhandelte er sogar mit einem wilden Wolf. Dieser hatte die Dorfbevölkerung in Angst und Schrecken versetzt, weil er sich ohne Furcht dem Dorf genähert und nicht nur Nutztiere gerissen, sondern auch Menschen angefallen hat. Franziskus ist ihm auf dem offenen Feld entgegengetreten und hat mit ihm eine Vereinbarung getroffen: Die Dorfbevölkerung würde ihm genug zum Fressen geben, er aber müsse aufhören, Nutztiere zu reißen und den Menschen Angst einzuflößen.
Der Kirchenvater Hieronymus wird oft mit einem Löwen dargestellt. Die Legende berichtet, dass eines Abends ein hinkender Löwe in sein Kloster eindrang. Während die anderen Bewohner fluchtartig davonrannten, wandte sich Hieronymus dem Löwen zu und untersuchte dessen Pfote. Er entdeckte einen Dorn, der tief im Fleisch steckte, und zog ihn heraus. Daraufhin soll der Löwe sich friedlich zu seinen Füßen niedergelegt haben und bei ihm geblieben sein. Oder ich denke an Romedius von Thaur, der als Einsiedler auf dem Nonsberg im Trentino gelebt hat. Im dortigen Wald lebten auch Bären. Einer hat seinen Esel gerissen, der ihm auf seinen Reisen als Reittier diente, woraufhin Romedius den Bären gescholten und ihm kurzerhand den Sattel aufgelegt hat. So soll dann der Bär als sein Reittier gedient haben.
Ich mag diese Geschichten. Es sind nicht einfach nur fromme Legenden. Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass sie sich genauso zugetragen haben, aber sie beinhalten eine aktuelle Botschaft auch für die heutige Zeit. Ich lese sie als Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, mit der Natur und den Tieren im Einklang zu leben. Das Zusammenleben mit den wilden Tieren ist nie konfliktfrei gewesen, aber diese Geschichten zeigen uns, dass die Menschen in früheren Jahrhunderten nicht der Versuchung unterlegen sind, gefährliche Tiere sinnlos zu töten oder auszurotten.
Gewiss, diesen Geschichten ist auch eine gewisse Ambivalenz eingeschrieben, denn letztlich geht es darum, dass die wilden Tiere gezähmt werden und dass ihre Wildnis gebrochen wird. Vielleicht ist es die Angst, die dazu motiviert, oder aber das Bestreben, dass wir über die Natur und über die Tiere herrschen wollen. "Unterwerft euch die Erde und herrscht über die Tiere" (vgl. Gen 1,28), heißt es schon in der Genesis, in der ersten Schöpfungserzählung. Die heutige Exegese deutet diesen Vers wie folgt: "Setzt euren Fuß behutsam auf die Erde und tragt Sorge für die Tiere". Dazu gehören alle Tiere: die wilden ebenso wie die gezähmten, die wir landwirtschaftlich nutzen oder die als Haustiere in unseren Wohnungen leben.
Der Welttierschutztag erinnert an die Verantwortung, die Menschen für das Wohl aller Tiere tragen.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Andreas Dombert
Album: Guitar
Titel: Like the birds sing - movement 1 - für Gitarre solo
Solist/Solistin: Andreas Dombert /Gitarre
Länge: 15:37 min
Label: Enja/Yellowbird Records ENJA9767
