Franzobel über Jean Paul als Moralist

12. November 2025, 06:57

Jean Paul, dessen Todestag sich am 14. November zum 200 Mal jährt, passt nicht mehr in unsere Zeit. Zu vielschichtig, zu philosophisch … zu viel von eigentlich allem. Was sagt das über uns? Können wir nicht mehr lesen?

Jean Pauls Werke sind voller Einschübe, Zwischenkapitel, Vor- und Nachworten, Ergänzungen, Perspektivenwechsel, Identitätsvertauschungen. Oft weiß man selbst nach dreihundert Seiten nicht, was man da eigentlich gelesen hat. Manchmal tritt er selbst auf, dann wieder sein alter ego in einem anderen Körper, oder man ist in einer Todesvision, in einem Traum, oder Christus selbst spricht vom Kreuz zu uns herab, das alles ist so komplex, dass netflixträge Hirne nicht mehr mitkommen.

Sich darauf einzulassen, erfordert Muße und Geduld, die in unserer von aufmerksamkeitsheischenden Klicks bestimmten Zeit niemand mehr hat. Wagt man es dennoch, wird man aber reich belohnt.

Jean Paul war ein Moralist, der sich selbst nicht immer ganz ernst genommen hat, einer, dem kaum etwas heilig war, der die Welt in ihren vielfältigen Ausprägungen mit Sprache erfassen wollte. Erster deutscher Humorist, dessen komische Effekte mit der sanften Ironie eines Spitzwegs daherkommen.

Da ist etwa der titelgebende Schulmeister Wutz, der sich anhand eines Katalogs, dem er Buchtitel entnimmt, sämtliche Weltliteratur selbst schreibt und dann nicht versteht, wie ein anderer Autor (nämlich der eigentliche) die Frechheit besitzen konnte, sie ganz anders zu schreiben. Oder der Feldprediger Schmelzle, ein Meister der komischen Ausreden, der auf seiner Reise nach Flätz dem blinden Passagier Jean Paul begegnet. Manche Passagen zählen zum Komischsten, was je geschrieben worden ist. Jean Paul war ein Abschweifer, der den Leser mit einer Bilder-, Stoff- und Motivflut überforderte, mit Identitäten seiner Charaktere spielte, alle gesicherte Realität in Frage stellte. Er war der erste postmoderne Autor, der erste professionelle Schriftsteller Deutschlands. Einer, der nicht mehr in unsere Zeit passt, was weniger gegen ihn als gegen uns spricht.

Service

Franzobel, "Hoppelpoppel oder Jean Pauls Zauberland. Eine Schauspielrevue", Edition Melos

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• Alexandra Mantler