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Gedanken für den Tag
Ein Stück Unsterblichkeit
von Hannah Lessing, Vorstand des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
22. November 2025, 06:57
Man sagt, im November, zu Beginn der dunklen Jahreszeit, würden die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten durchlässig. Die Erinnerung rückt in den Vordergrund und wir spüren die prägende Kraft der Vergangenheit.
"Ohne Erinnerung keine Identität, ohne Vergessen kein Frieden", sagt der französische Philosoph Paul Ricoeur. Unsere Arbeit im Nationalfonds steht seit drei Jahrzehnten im Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Vergessen. Überlebende erzählen uns vom himmelschreienden Unrecht, das ihnen vom NS-Regime angetan worden ist: Man hat sie erniedrigt, vertrieben, deportiert, ihre Familien ermordet. Wie kann, wie soll man mit so einer traumatischen Vergangenheit umgehen?
Nach dem Krieg war die Antwort Schweigen. Die Menschen wollten vergessen: Die Täterinnen und Täter haben die Schuld weit von sich geschoben. Die Überlebenden haben alle Kraft dafür gebraucht, um aus den Scherben ein neues Leben aufzubauen. Später hat sich das geändert: Die Erinnerung ist zurückgekehrt, lange Unterdrücktes hat an die Oberfläche gedrängt. Erinnern ist zu einer moralischen Pflicht geworden - unabweisbar, wie es der Historiker Christian Meier ausgedrückt hat, denn: "Wenn man derartige Verbrechen angerichtet hat, dann kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen."
Aus vielen Gesprächen mit Überlebenden weiß ich, dass Erinnerung für sie ein Zuhause im kollektiven Gedächtnis Österreichs bedeutet - ein kleines Stück Unsterblichkeit, "ein Akt des Widerstandes gegen das Verstummen", wie Primo Levi es formuliert hat. Ich denke, man muss erst erinnern, um loslassen und vergessen zu können. "Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit", steht im Buch Kohelet. Das gilt wohl auch für das Erinnern und das Vergessen.
Service
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Aaron Copland 1900 - 1990
Titel: Music for the Theatre
* Epilogue (00:03:43)
Leitung: Gerard Schwarz
Orchester: New York Chamber Symphony
Ausführender/Ausführende: David Shifrin
Ausführender/Ausführende: Mark Hill
Ausführender/Ausführende: Neil Baum
Länge: 03:43 min
Label: EMI 7490952
