Hosea Ratschiller über Zweig und Zensur

27. November 2025, 06:57

Brüche und Risse in Biografien großer Literaten werden oft zur Triebfeder von Exzellenz verkitscht. Hier, im öffentlich-rechtlichen Bildungsradio, können wir unseren Blick auf Kunst aber ein Alzerl von Versuchungen und Methoden der Klatschpresse emanzipieren. Die Rundfunkgebühr verschafft uns das Privileg, nüchtern und gefasst feststellen zu dürfen: Jawohl, viele Männer entblößen gerne öffentlich ihre Scham, aber nur sehr wenige davon schreiben eine Schachnovelle. Und, wer erotische Neigungen unterdrückt, dem fallen nicht zwingend Buddenbrooks ein.

"Biographies are but the clothes and buttons of the man. The biography of the man himself cannot be written", sagt Mark Twain. Trotzdem lässt sich aus seiner Lebensgeschichte ein Gedanke zu unserem Thema ableiten. Cancel Culture wird oft mit Zensur verwechselt und ist doch ihr glattes Gegenteil. Wo Machthaber den Informationsfluss mit Gesetzen kontrollieren, sprechen wir von Zensur. Klammert Zivilgesellschaft Gegenstimmen aus, um ihre Gewissheiten im Informationsfluss zu verankern, dann ist das Cancel Culture. Auf Burschenschafter-Buden wird selten Bella Ciao gesungen, auf Tierschützer-Demos werden Sie kaum Pelzhändler sprechen hören und ja, die meisten Gotteshäuser canceln Atheismus.

Mark Twains erster Informationsfluss war der Mississippi. Einen anderen gab es damals noch nicht. Zur Zeit seiner Geburt reisten Nachrichten noch per Raddampfer, später dann per Telegraf, Fotografie, Radio, Telefon und Film. Der kleine Mark sah alle Massenmedien kommen und Mister Twain konnte liefern: originelle Zitate mit unverwechselbarem Erscheinungsbild. Erst diese Handelsware ließ Öffentlichkeit zu dem Kulturraum wachsen, in dem Zivilgesellschaft blühen kann, so lange, bis sie zu canceln beginnt, und schließlich, welk geworden, den Mississippi wieder runter treibt. Ja, ganz ohne Kitsch geht es eben auch nicht.

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