Zwischenruf
Vom Wert der Offenheit
von Ingrid Bachler, evangelisch-lutherische Oberkirchenrätin
30. November 2025, 06:55
"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit" - in diesen Wochen wird das bekannte Adventlied von vielen gesungen. Seine Melodie klingt vielen vertraut, sein Text scheint aus einer anderen Zeit. Doch gerade in einer Welt, in der Grenzen wieder enger gezogen werden, gewinnt dieses alte Kirchenlied eine überraschende Aktualität.
Es stammt aus dem Jahr 1623. Georg Weissel schrieb es in Königsberg, mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges - einer Epoche voller Zerstörung, Angst und Misstrauen. Und schon damals war die Botschaft ein Gegenentwurf zur Enge der Zeit: Öffnet die Türen, lasst den Frieden herein, gebt Raum für Gottes Ankunft.
Heute, 400 Jahre später, sind die Worte wieder verstörend aktuell. Die Welt scheint sich zu verschließen. Grenzen, die einst offen waren, werden wieder gezogen. Neue Zäune entstehen an den Außengrenzen Europas. Menschen, die vor Krieg, Elend oder dem Klimawandel fliehen, stoßen auf Stacheldraht, Misstrauen und bürokratische Hürden. Auch in den Köpfen entstehen Mauern - zwischen "uns" und "den anderen", zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion oder Meinung.
Der Advent, die Zeit der Vorbereitung auf das Kommen Christi, beginnt also in einer Atmosphäre der Enge. Doch das alte Lied widerspricht ihr entschieden. Es ruft dazu auf, weit zu machen - unsere Türen und unsere Herzen. "Macht hoch die Tür" ist keine fromme Floskel, sondern ein geistliches Gegenprogramm zu einer Welt der Abschottung. Der Advent erinnert daran, dass der christliche Glaube von Offenheit lebt. Nicht vom Rückzug, sondern vom Aufbruch. Der, der kommt, will nicht an verschlossenen Türen scheitern - weder an unseren Grenzen noch an unseren Herzen.
Ich finde: Gerade das brauchen wir. Denn die Spaltung zieht sich längst durch die Gesellschaft. Zwischen politischen Lagern, zwischen Generationen, zwischen Stadt und Land. Auch im Privaten werden Türen oft leise geschlossen - durch Enttäuschung, Überforderung und Angst. Der Adventkranz, die Kerzen, die adventlichen Lieder - all das sind Symbole des Lichts, das kommt. Eine Kerze ist klein, aber sie widerspricht der Dunkelheit. In einer Welt, die von Krieg, von globaler Ungerechtigkeit und wachsender Angst geprägt ist, sind solche kleinen Zeichen von Hoffnung notwendig.
Offenheit ist dabei keine abstrakte Haltung. Sie beginnt im Alltag: im Zuhören, im Verzeihen, im Mut, wieder auf jemanden zuzugehen. In der Bereitschaft im anderen den Bruder, die Schwester zu sehen. Im Engagement für die, die sonst übersehen werden. "Macht hoch die Tür" ist also kein sentimentales Lied aus vergangener Zeit. Es ist ein Weckruf an die Gegenwart. Es ruft dazu auf, den Advent nicht als nostalgische Flucht vor der Wirklichkeit zu leben, sondern als Einladung, sie zu verwandeln.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Urheber/Urheberin: Volksweise
Bearbeiter/Bearbeiterin: Hubert Pfluger
Gesamttitel: HARFENWEIHNACHT
Titel: Macht hoch die Tür/instr.
Solist/Solistin: Hubert Pfluger ///Tiroler Harfe
Länge: 02:45 min
Label: Europhon ECD 5166
