Gemeinsam erinnern
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Die Tragödie der Kosaken an der Drau
Gerda Taylor, Jg. 1947 - 29. April 2025, 12:59
Am Feld vor dem Haus meiner Großmutter campierten 20.000 Kosaken. Sie sind vor der Stalinregime geflohen sind und haben für Hitler gekämpft. Die Briten versprachen, sie nicht auszuliefern, brachen den Deal aber. Viele Frauen sind aus Angst mit ihren Babys in die Drau gesprungen oder haben sie vor den Bauernhäusern abgelegt. Meine Großmutter versteckte Kosaken auf unserer Alm. Einige Kosakenkinder sind von Einheimischen aufgezogen worden. Diese Geschichte wird kaum erzählt.
Brite verliebte sich augenblicklich
Gerda Taylor, Jg. 1947 - 29. April 2025, 12:24
Die britischen Panzer fuhren durch Velden. Vor dem Hotel Hubertushof blieb einer stehen, ein junges, hübsches Mädchen kam aus dem Hotel, um zu fragen, was sie wollen. Sie wollten etwas trinken, der Panzerfahrer verliebte sich augenblicklich in das Mädchen – sie heirateten und die Familie Kenney gibt es heute noch.
Vom russischen Pferdegespann abgesprungen
Josef Redl, Jg. 1945 - 29. April 2025, 12:09
Eines Sonntags ging ich mit einem anderen Buben aus der Volksschule in die Kirche. Ein russisches Pferdegespann winkte uns zu, wir mögen uns auf den Wagen setzen, mit etwas Angst aber auch Abenteuerlust setzten wir uns hinten hinauf. Bei einer Kreuzung bogen sie im Galopp in eine andere Richtung ab. Wir bekamen Angst und sahen uns schon in Sibirien, sind abgesprungen und haben uns sozusagen befreit. Buchtipp: „Die Hitlerzeit im Südburgenland“ mit vielen Erinnerungen u.a. von meiner Schwester.
Mein Papa - der "letzte Heimkehrer"
Josef Broger - 29. April 2025, 09:03
Mein Papa - der "letzte Heimkehrer
Zweite Republik Erinnerungen
Mein Papa, Josef Broger, (geb. 31.8.1923) kam um Jahr 1955 als „letzter Heimkehrer“ aus der Gefangenschaft in Sibirien aus dem 2. Weltkrieg zurück.
Er wurde in den letzten Kriegsjahren als junger Mann eingezogen und war als Kraftfahrer in Lettland stationiert. 1945 bekam er den Befehl, alle Kameraden sofort zum Hafen zu fahren, da der Krieg beendet sei und das letzte Schiff dort alle „Deutschen“ nach Hause bringen würde. Da auf seinem LKW nicht für alle Kameraden Platz war, fuhr er schnellstmöglich zum Hafen und versprachen den zurückgelassenen Kameraden verlässlich wieder zu Kommen um auch sie abzuholen. Das Versprechen hielt er auch ein und als sie zum Hafen kamen, sahen sie das Schiff, das auf sie warten sollte und sie sicher in die Heimat zurückbringen sollte, gerade am Horizont verschwinden.
Nun war guter Rat teuer. Zurückgelassen nach Kriegsende im „Feindesland“….. Die einheimischen Letten nahmen die „Fremden“ bei sich auf und mein Papa und seine Kameraden lebten bei diesen und hofften auf eine baldige Rückkehr nach Hause. Doch es kam anders und sie wurden von Russen als Verräter und Deserteure zusammen mit lettischen Männern in Lettland festgenommen und ins Gefängnis gebracht.
Nach einigen Monaten gelang einigen der Männer, darunter auch meinem Papa die Flucht aus dem Gefängnis und sie schlugen sich ins Landesinnere durch, wo sie von einem Tatarenstamm gefunden und aufgenommen wurden. Dort wurden sie in die Dorfgemeinschaft aufgenommen und mein Papa erzählte, dass er dort spannende Tage und Wochen erlebte: z.B: war das Essen ganz klar geregelt – gekocht wurde in der Dorfmitte auf dem Feuer für das ganze Dorf. Die Männer setzten sich mit dem Rücken zum Topf und nur der Dorfvorsteher durfte „vorwärts“ zum Topf sitzen. Dann bedienten sich alle aus dem grossen Kochtopf – der Vorsteher konnte sich leicht die grossen Stücke aus dem Topf aussuchen, die anderen mit dem Rück zum Topf bekamen was sie erreichen konnten. Die Frauen und Kinder assen getrennt.
Nach einigen Monaten wurde er wieder von den Russen aufgegriffen und als Spion und Verräter inhaftiert und nach Sibirien deportiert.
In Sibirien wurde er am Baikalsee in ein Gefängnis gebracht, und musste jeden Tag im Bergwerk arbeiten. Er war in der Zeit in der Gefängniszelle u.a. mit einem russischen Professor untergebracht und da er inzwischen die Sprache beherrschte war ein Punkt, der ihn am Leben hielt, dass er auf Russisch mit diesem Mann Mathematik „studierte“. Daneben musste er jeden Tag mehr als 400 Stufen in das Bergwerk hinunter und abends nach der Arbeit wieder hinaufsteigen. Untertags gab es Wasser und schimmliges Brot und abends meistens Suppe.
Mein Papa konnte so lange ich mich erinnern kann niemals Fisch oder Hühner- oder Putenfleisch essen – die Suppe war nämlich Wasser mit Fischköpfen und Gräten oder Hühnerköpfen und -füssen.
Immer mal wieder wurde mein Papa von den Aufsehern geholt und vor ein „Gericht“ gestellt und immer wieder zu Gefängnis als Spion und Verräter „verurteilt“.
Mein Papa erzählte seine Freilassung wie folgt: als 1955 der Staatsvertrag der Alliierten und Österreich unterzeichnet werden sollte, wurde die Forderung gestellt, den in Russland inhaftierten Direktor der Wiener Sängerknaben und einen Staatssekretär in den Gefängnissen zu suchen und freizulassen. Diese zwei waren im selben Gefängnis wie mein Papa inhaftiert und als man im Zuge der Suche nach den zwei Männern noch auf einen 3. Österreicher traf, war man ihn zusammen mit den anderen Zwei in Sibirien in einen Viehwaggon und schickte den Zug zurück nach Österreich.
10 Jahre nach Kriegsende kam mein Papa wieder zurück in seine Heimat nach Lustenau und wurde am Bahnhof empfangen.
Er kam in ein „fremdes“ Land zurück und war komplett überfordert. Inzwischen war ihm die Sprache fast fremd und die Veränderungen in den 10 Jahren Gefangenschaft liessen ihn in seiner Heimat fast verzweifeln. Unter anderem war für ihn ein grosser Schock, dass in der Kirche inzwischen der Volksaltar war und die heilige Messe auf Deutsch und nicht mehr Lateinisch abgehalten wurde. Damals war Traumabewältigung oder Hilfe ein Fremdwort. Mein Papa war oft versucht wieder zurück nach Russland zu gehen, weil er die Welt hier nicht mehr verstand, keine Freunde hier hatte und nicht wusste wie er sich in seiner Heimat zurechtfinden sollte.
Meine Mama war damals angestellt als Buchhalterin beim grössten Stickereiunternehmen Gebhard König – beim „Grober“. Ihr Chef Gebhard war der einzige, der sich sagte: Diesem Heimkehrer muss man helfen – und er veranstaltete einen Ausflug für meinem Papa mit Angestellten und Geschäftsfreunden. Da meine Mama eine der einzigen „ledigen“ jungen Frauen war, sagte ihr Chef Gebhard – sitz Du zu dem Josef, Du bist redselig und kannst gut mit ihm reden und umgehen.
Aus diesem Ausflug entstand die Liebe und unsere Familie. Im Jahr 1956 heirateten mein Papa und meine Mama und wir wohnten in der Sandstrasse bei meiner Oma. Mein Papa hatte keinerlei Ausbildung und nur dank dem Beruf meiner Mama als Buchhalterin und dem Wohnen bei meiner Oma konnten sie eine Familie gründen. Mein Papa fand in der Stickerei beim „Mussar“ in der Bahnhofstrasse eine Hilfsarbeit, sodass er wenigstens zum Erhalt der Familie beitragen konnte. Allerdings war der Lohn so niedrig, dass er mehr Geld für die Zigaretten, die er damals rauchte ausgeben musste, als er verdiente. Als meine Mama mit mir schwanger war, verlor mein Papa seine Arbeitsstelle. Trotzdem konnte er sein heissgeliebtes Auto behalten, da meine Mama zum Glück für ihre Zeit sehr gebildet war und als Buchhalter beim „Grober“ einen sehr guten Arbeitsplatz hatte.
Nach einigen harten und ungewissen Monaten fand mein Papa eine Arbeit in Bregenz in der Fabrik „UZIN“, wo Kleb- und Leimstoffe hergestellt wurden. So fuhr er jeden Tag nach Bregenz und ganz oft kam er komplett aufgelöst nach Hause – „ich habe den Russen gesehen“….. Lange Zeit wusste ich nicht was das bedeutete, bis er uns einmal erzählte, dass ihm im Gefängnis in Sibirien immer wieder eingebläut wurde, dass er ein Leben lang unter russischer Aufsicht sei und immer und überall beobachtet werde. Dies sass so tief, dass er so lange er lebte daran glaubte und immer unsicher war und sich am liebsten unsichtbar machen wollte. Nur bei unseren vielen Ausflügen mit der Familie in die Schweiz war er gelöst und fühlte er sich wohl und sicher.
Als die Firma „UZIN“ aufgelöst wurde, fand mein Papa bei der Firma Grass in Höchst eine neue Stelle, wo er bis zu seiner Pensionierung beschäftigt war.
Die Pension konnte er noch einige Zeit mit meiner Mama und meinen Geschwistern und mir geniessen, aber kurz vor seinem 70. Geburtstag starb er am 25. Mai 1993.
Mein Papa war ein Leben lang gezeichnet von seiner Gefangenschaft und trotzdem ein wunderbarer, lebensfroher Mensch, dem seine Familie über alles ging. Genau am Tag als meine Schwester 1963 geboren wurde, wurde er 40 Jahre zuvor in der Gefangenschaft in Sibirien zu 100 mal 100 Jahren lebenslänglichem Kerker verurteilt und hatte damals keine Hoffnung mehr auf ein „normales“ Leben.
Etwas ganz Wichtiges gab mein Papa mir und unserer ganzen Familie mit und lebte es auch vor – Streit und böse Worte, Unzufriedenheit und Krieg sind zerstörerisch und bringen nur Leid. Danach und damit hat er ein Leben lang gelebt und war mir dadurch ein wunderbares Vorbild.
Familiengeschichten rundum das Jahr 1945
Edgar Schütz - 28. April 2025, 20:06
Im Frühjahr 1945 sollte mein damals 15-jähriger Vater zum "Volkssturm" eingezogen werden. Meine Großmutter wusste dies zu verhindern. Das war damals aber eine heikle Angelegenheit, die im Wortsinn tödlich sein hätte können. Mein Schwiegervater (Jahrgang 1940) wurde kurz nach Kriegsende im südlichen Burgenland beim Spielen mit einer umherliegenden Granate schwer verletzt. Eine sowjetische Lazarettärztin rettete dem kleinen Buben das Leben und pflegte ihn gesund. Meine Mutter musste als Angehörige der deutschsprachigen Bevölkerung der damaligen Tschechoslowakei im Jahr 1945 ihre Heimat verlassen. Vor allem für ihre Eltern war der Rest des Lebens nicht leicht. Davon erzähle ich in meinem Audiobeitrag.
GIs lachten, als ich mit „Heil Hitler“ grüßte
Volkmar Forisch - 28. April 2025, 14:48
Wir sind von Gablitz nach Attersee geflüchtet. Meine Mutter wurde von den Amerikanern verhaftet, ich bin zu ihr gegangen in eine schöne Villa, wo ungefähr zehn Amerikaner saßen, am Kopfende meine Mutter. Ich bin bei der Gartentür hinein gegangen und mit „Heil Hitler“ gegrüßt. Die Amerikaner haben furchtbar gelacht, nach einigem Hin und Her konnte ich die Mutter wieder mitnehmen.
Immer Informationen über den Vater gesucht
Klaus Granegger - 28. April 2025, 13:18
Mein Vater kam mit starkem Nierenleiden aus dem Krieg zurück und starb, als ich 7 Monate alt war. Ich habe Informationen über das Grazer Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung bezüglich der Einberufung und Kriegsgefangenschaft des Vaters in Jekaterinburg bekommen. Auch das Buch „Ihr dort oben, wir da unten“ über Flak-Helfer ist empfehlenswert.
POW im Gefangenlager Manchester (England)
Josef Bauchinger - 26. April 2025, 11:53
Josef Bauchinger, geb. 16.09.1926 in Ried im Innkreis, zur Erinnerung an die Gründung der 2. Republik, als Kriegsgefangener im Lager Manchester.
Erinnerung zum 80. Geburtstag der Republik Österreich / Josef Bauchinger / geb. 16.09.1926
Im Jahr 1945 endeten der Zweiten Weltkrieg und die NS-Herrschaft in Europa. In Österreich wurde die Zweite Republik gegründet, die nun im Jahr 2025 ihr 80. Jubiläum feiert.
Am 25. April 1945 wurde in Österreich eine provisorische Regierung eingesetzt und am 14. Mai die Demokratische Republik Österreich ausgerufen.
Vor 80 Jahren war ich als POW (Prisoners Of War) in Manchester/England in Kriegsgefangenschaft. Als deutscher Soldat (geboren in Ried im Innkreis/Österreich), gefangen genommen von den alliierten Streitkräften (in Nancy/Frankreich von den Amerikanern).
Immer wieder wurden wir von der Lagerleitung darauf hingewiesen, dass politische Aktivitäten bei Strafe verboten waren.
Am Tag der Ausrufung des österreichischen Staates, wurde am Platz in der Mitte des Lagers, an dem die POW anzutreten hatten, auf einem hohen Baum die österreichische Flagge gehisst. Das wurde von der Lagerleitung als politischer Akt gewertet und eine Strafe angedroht, die allerdings nie verhängt wurde. Der Lagerleiter erteilte den Befehl, der Missetäter möge sich melden, ansonsten würden alle Gefangenen mit einer Bestrafung zu rechnen haben. Allerdings meldete sich niemand und so erteilte der Lagerleiter der Feuerwehr von Manchester den Auftrag mittels Feuerwehrfahrzeug und Drehleiter die Fahne vom Baum im Lager zu entfernen. Die FFW Manchester rückte an, jedoch war die Leiter zu kurz, um die österreichische Fahne zu erreichen. Daraufhin orderte der englische Feuerwehrkommandant eine längere Leiter, die Flagge wurde vom Baum gerüttelt, fiel Richtung Erde und noch bevor die Fahne den Boden berührte, rannte ein POW zum Baum, schnappte sich die Fahne und sie ward in der Folge nicht mehr gesehen und gefunden.
So geschehen in Manchester 1945 im Gefangenlager der deutschen POW.
Kriegssplitter
Erich Grubhofer - 25. April 2025, 20:25
Erlebnisse in der Besatzungszeit
In den ersten Tagen der Besatzung stürmte eines Vormittags ein betrunkener Soldat ins Haus und forderte Schnaps. Als mein Vater ihm bedeutete, dass er keinen habe, bedrohte er ihn mit dem Revolver. Meine Mutter und ich, im Obergeschoss auf den Knien betend, hörten die Auseinandersetzung. Schließlich fiel das Wort „Dich erschießen!“ Mein Vater hatte sich, wie er später erzählte, eben auf die Hausbank im Vorhaus gesetzt, als gerade rechtzeitig ein Offizier eintrat und dem Soldaten den Revolver aus der Hand schlug.
Aus: Erich Grubhofer, Est! Est! Est!
Kriegssplitter 1944/45
Besatzungszeit in Baden und Abzug der Russen 1955
Brigitte Scharinger - 25. April 2025, 14:06
Arbeit bekamen nur Mitglieder der kommunistischen Partei; bei den Wahlen wagte niemand, in die Wahlkabine zu gehen, weil der Betriebsrat klar machte, was er von einer geheimen Wahl hielt. Der Abzug der letzten Soldaten verlief völlig unspektakulär.
Baden war, als ich mit 5 Jahren 1947 dorthin kam, von den Russen besetzt und es befand sich dort das Hauptquartier der russischen Besatzungsmacht. Die Menschen hatten Angst vor den Besatzern und diese Angst war auch für so ein kleines Kind für mich einfach spürbar. Viele der schönen, alten Villen, waren von Russen besetzt und die ursprünglichen Bewohner hatten Glück, wenn sie in 1 Zimmer bleiben konnten und nicht einfach rausgeschmissen wurden.
Mein kindliches Verständnis der Welt war einfach: „Es gibt Russen und Österreicher und die Österreicher müssen tun, was die Russen wollen.“
Die Angst vor den Russen war immer da – vor Kindern wurde über Politik nicht gesprochen, zu groß waren die Ängste, dass man sie in der Schule ausfragen konnte.
Arbeit gab es nur, wenn man Mitglied in der kommunistischen Partei war. Dann musste man auch die Zeitung „Volksstimme“ abonnieren. Zum Kassieren der Abo-Gebühr wurde ein Parteimitglied verpflichtet und man konnte nie wissen, ob dieser Kassier Parteimitglied aus Überzeugung war oder nur dabei war, um arbeiten zu können. Und so wurde gezielt Misstrauen unter die Bevölkerung getragen.
Gut erinnere ich mich an eine Wahl in der Fabrik, in der mein Stiefvater arbeitete.
Im Betrieb wurde ein Büro zur Wahlzentrale eingerichtet, es gab Wahlzettel mit den Namen der zu wählenden Personen/Parteien und eine Wahlkabine mit einem Vorhang, in der man sein Kreuz auf dem Wahlzettel unbeobachtet machen konnte. Theoretisch. Als sich die Arbeiter zur Wahl einfanden und der erste in Richtung Wahlkabine schritt, rief der Betriebsrat laut und drohend: „Wer braucht schon eine Wahlkabine? Ein guter Kommunist weiß, wo er sein Kreuzerl machen muss, da braucht er sich nicht zu verstecken“. Natürlich traute sich niemand, die Wahlkabine aufzusuchen und so war das Ergebnis der Wahl wie erwartet: 100 % wählten die Kommunisten!
Am 15. Mai 1955 fand in Baden das traditionelle Motorradrennen statt. Die Maschinen brausten mit Höllenlärm die Helenstraße hinauf und die Weilburgstraße wieder hinunter. Dieses Spektakel zog jährlich viele Schaulustige an, und auch ich stand mit Freundinnen an diesem schönen, sonnigen Tag am Rand der Straße. Obwohl kein Unfall passiert war, ging plötzlich eine Aufregung und Unruhe durch das Publikum. Die Erwachsenen riefen einander zu: „Der Staatsvertrag ist unter-
schrieben!“ Die Schwester einer Freundin, die mit ihrem Verlobten neben uns stand, erklärte uns die Bedeutung mit einfachen Worten: „Die Russen ziehen ab!“ Diese Sensation verstanden auch wir Jugendlichen. Es schien so unglaublich, wurde aber in den folgenden Wochen immer wiederholt und in der Wochenschau im Kino als wahr hingestellt.
In den ersten Wochen nach Schulbeginn mussten wir öfter klassenweise bei offiziellen Terminen erscheinen. Es ging um Versicherungen der Freundschaft zwischen Österreichern und Russen und um höchst langweilige Abschiedsfeiern. Ich glaubte immer noch, dass etwas dazwischenkommen würde. ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Russen wirklich endgültig und vollständig abziehen würden. Zu Hause, in der Schule und im Freundeskreis wurde über Politik überhaupt nicht gesprochen.
Dann hörte ich, dass die letzten Russen am 19. September vom Frachtenbahnhof Pfaffstätten am Nachmittag abfahren würden. Pfaffstätten ist nur einige Kilometer von Baden entfernt und ich schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr zum Frachten-bahnhof. Außer mir waren nur einige Erwachsenen anwesend, eine kleine Abordnung der Badener Jungkommunisten stand etwas verloren auf dem Bahnsteig.
Die offiziellen Abschiede waren schon alle erledigt und so kam nur ein kleiner Trupp russischer Soldaten angefahren und stieg sang- und klanglos in den Zug. Die Jungkommunisten winkten einem jungen Soldaten zu, nochmals aus dem Zug auszusteigen und in Ermanglung von Sprachkenntnissen bedeuteten sie ihm gestenreich, dass man zur Erinnerung die roten Halstücher tauschen wolle. Der Führer der Jungkommunisten band sein rotes Halstuch dem Soldaten um und der Soldat band seines dem Österreicher um. Nach dem Tausch sahen sie beide aus wie vor dem Tausch.
Ich stand in der Nähe, beobachtete alles mit großen Augen. Dann ertönte ein Pfeifsignal, der junge russische Soldat sprang in den Zug, winkte nochmals kurz – und dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Ich erwartete jeden Moment, dass er stehenbleiben und zurückfahren würde, aber er fuhr immer weiter, bis er in der Ferne verschwand.
Ich war verwundert, wie unspektakulär dieses Ende der Besatzungszeit ablief und spürte ein ungeheures Glücksgefühl in mir aufsteigen. Jetzt erfüllten sich auch für mich die Worte, die bei der Unterzeichnung des Staatsvertrages gefallen waren:
„Österreich ist frei!“