Fluchtgeschichten, Familiengeschichten

Hiesige z'erscht, Zuagroaste nur, wann a Platz is

Von: Gunther Neumann | 24. April 2025, 15:17

Mythen - und die Realität unser aller Aufnahme- & Hilfsbereitschaft

Meine Großeltern bzw. meine damals jungen Eltern kamen nach dem zweiten Weltkrieg 1945/46 als Vertriebene nach Österreich und fanden im Salzkammergut Aufnahme – oder Unterschlupf. Auch wenn die idyllische Gegend anders als die großen Städte kaum vom Krieg verheert war: die Not war überall groß, und die Aufnahmebereitschaft der Ansässigen hielt sich in Grenzen. Die alliierten Besatzungsmächte ließen allerdings keinen Widerspruch zu. Öffentliche Hilfe war natürlich nicht vorhanden, aber beim „Hamstern“ – so hieß das Betteln und Tauschen von irgendetwas gegen Essen – steckten ihnen manche etwas zu. Hunderttausenden ging es ähnlich, oder noch viel schlechter. Nur wenige Monate zuvor waren ja noch ganz anders geschundene Menschen durch österreichische Dörfer getrieben worden: Einige Landsleute hatten gemordet, andere gejohlt, viele beschämt bis entsetzt weggeschaut, wenige hatten – unter Lebensgefahr – den Erbarmungswürdigen etwas Essbares gegeben. Über die prozentuale Verteilung von Mut oder Wegsehen, von Großzügigkeit oder Niedertracht kann die Geschichtswissenschaft kaum je genau Auskunft geben – und die Erinnerung ist manchmal getrübt oder geschönt.

Meine Großeltern und Eltern verdingten sich, die Erlebnisse der eigenen Vertreibung im Kopf, im günstigen Fall als nächtliche Holzteller-Bemaler für amerikanische Offiziere, als Hilfsarbeiter, als Torfstecher, bei den Bauern des Salzkammergutes. Zur Arbeitsstelle ging es über viele Kilometer zu Fuß: für den seltenen öffentlichen Bus galt beim Öffnen der Tür das Wort des Fahrers: „Einheimische z’erscht, Zuag’roaste nur, wann a Platz is.“ Allzu oft war kein Platz. Und an den „Zuag’roasten“ klebte in der gleichsprachigen Fremde eine Unterstellung: Wer vertrieben war, musste doch etwas ausgefressen haben, oder..? Üble Nazis vielleicht? (was nicht zutraf) - im Gegensatz zu uns Einheimischen… Auch über uns nachgeborene Kinder hing am Land noch viele Jahre später ein Braunschleier: Kind von Vertriebenen. Das war nicht cool. Eher peinlich. Sohn oder Tochter etwa von chilenischen Flüchtlingen zu sein, hatte später in der großen Stadt weit mehr Pep. Bis sich auch das mit neuen Flüchtlingsbewegungen wieder änderte.

Doch waren die Einheimischen 1945/46 wohl nicht schlechter oder besser als Menschen anderswo in ähnlichen Situationen. Die nachträgliche Heroisierung vermeintlicher Selbstlosigkeit einst hält der Überprüfung kaum je stand: Heute vielzitierte Vergleiche mit 1956, 1968 oder den neunziger Jahren hinken, mehrfach. Ungarn, die Tschechoslowakei wie auch das zerfallende Jugoslawien waren Nachbarländer Österreichs. Ein Blick in Zeitungsarchive beweist, dass auch 1956 die Abwehr bald stärker war als die anfängliche Hilfsbereitschaft. Die Grenzen wurden nach wenigen Monaten von den Machthabern in Budapest wieder recht hermetisch geschlossen. Die Unterschiede in Kultur, Gewohnheiten, auch Religion waren gering. Und von 180 000 Tausend Flüchtlingen jener Monate blieben 10% in Österreich, von 160 000 aus der CSSR 1968 noch weniger. Viele der zehntausenden ukrainischen, aber auch syrischen und afghanischen Hilfesuchenden werden bei uns bleiben - und stellen unsere Aufnahmebereitschaft sehr umfassend auf die Probe.

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