Familiengeschichten

Maria schließt ab

Von: J. Mederer | 28. März 2025, 09:50

Literarischer Text über eine wahre Begebenheit.

Maria schließt ab
Die Fenster von innen, die Fensterläden von außen. Verriegelt, nochmals kontroll-gerüttelt. Einen der Fensterläden drückt sie nur fest zu. Den hat eines der Kinder kaputt gemacht, er kann nicht mehr verriegelt werden. Zum Schluss noch die Tür zum Wohnbereich mit dem Riegel innen. Wie jeden Abend schließt Maria den Hof sorgfältig ab.
1945. Gegen Ende des Krieges. Die Alliierten bombardieren Dresden und Berlin. Und trotzdem: Der Endsieg steht vor der Tür. „Wir siegen“, das haben alle im Ohr und glauben daran, die einen mehr, die anderen weniger. Maria und Josef zählen zu den anderen. Das wissen aber nur sie beide. Weder Nachbarn noch Geschwister kennen die Hoffnungen und Gesinnungen der Menschen, die ihnen am nächsten stehen.
Auf Hören des Fremdsenders steht die Todesstrafe.
Ein paar dünne Strähnen verraten, dass unter Marias Kopftuch ihr Haar schwarz ist. Es knistert. Im Ofen. In der Luft. Das Radio. Die letzten trockenen Äste. Die Frage nach dem Endsieg. Maria hat ihre Pantoffel ausgezogen und steht strumpffüßig im Kittel auf dem Diwan. Sie muss sich trotzdem strecken, um ihr Ohr ans Radiogerät zu legen. Weil das Radio steht weit oben, unter dem Kruzifix, im Herrgottswinkel. Vielleicht hilft's. Dass der Endsieg schon vor der Tür steht, sagen alle Stimmen, außer die im Radio. Maria schiebt das Kopftuch auf der rechten Seite hinters Ohr, es ist nun ganz nah am Gerät. So nah, dass sie die Kälte des Metalls spürt. Mit der rechten Hand greift sie nach dem schwarzen Regler. Langsam dreht sie den Daumen nach links, gleichzeitig den Zeigefinger nach rechts, bis sich der Knopf bewegt. Ihre Hand zittert leicht. Das Knistern aus dem Gerät wird lauter. Stück für Stück, Millimeter um Millimeter. Ein Summen; ein Summen das sich zu Flüstern formt, ein Flüstern, das sich schließlich zu Stimmen formt. Stimmen aus London. Verbotene Stimmen, verbotener Fremdsender. Schallwellen bringen Marias Trommelfell zum Schwingen und werden englische Worte in ihrem Kopf. Wenn sie so ans Radio gelehnt dasteht, sieht sie gut zu den beiden Fenstern hin. Ihre reglosen Augen wandern vom rechten zum linken Fenster. Schließlich fixiert sie das linke Fenster – das mit dem lädierten Fensterladen, dem Fensterladen, der nicht geschlossen werden kann. Plötzlich. Der Laden bewegt sich. Maria erstarrt. Zuerst ihre Augen, dann ihr Körper. Der Laden bewegt sich weiter nach außen. Knarrt. Ein Schatten vorm Fenster.
Tock, tock, tock.
Später wird Maria erzählen, dass sie innert Sekundenbruchteilen abgeschlossen hat.
Mit dem Leben.
Mit ihrem.
Mit dem von Josef.
Mit denen ihrer elf Kinder.
Und wieder: Tock, tock, tock.
Er wollte sich etwas ausborgen. Heute kann sie nicht mehr sagen, was es war. Vielleicht ein Brot oder ein Nähgarn oder ein Werkzeug. Es war ein Nachbar. Und das Wichtigste: er war ihnen gut gesinnt.
*
Acht Tage später sind sich auch die Stimmen außerhalb des Radios einig, dass zu diesem Zeitpunkt der Endsieg nur noch in einem Kopf Realität war. Bis auch hier die Stimme zum Flüstern wurde, das Flüstern zum Summen verkümmerte und schließlich für immer verstummte.

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