Heimkehrer
Mein Papa - der "letzte Heimkehrer"
Von: Josef Broger | 29. April 2025, 09:03
Mein Papa - der "letzte Heimkehrer
Zweite Republik Erinnerungen
Mein Papa, Josef Broger, (geb. 31.8.1923) kam um Jahr 1955 als „letzter Heimkehrer“ aus der Gefangenschaft in Sibirien aus dem 2. Weltkrieg zurück.
Er wurde in den letzten Kriegsjahren als junger Mann eingezogen und war als Kraftfahrer in Lettland stationiert. 1945 bekam er den Befehl, alle Kameraden sofort zum Hafen zu fahren, da der Krieg beendet sei und das letzte Schiff dort alle „Deutschen“ nach Hause bringen würde. Da auf seinem LKW nicht für alle Kameraden Platz war, fuhr er schnellstmöglich zum Hafen und versprachen den zurückgelassenen Kameraden verlässlich wieder zu Kommen um auch sie abzuholen. Das Versprechen hielt er auch ein und als sie zum Hafen kamen, sahen sie das Schiff, das auf sie warten sollte und sie sicher in die Heimat zurückbringen sollte, gerade am Horizont verschwinden.
Nun war guter Rat teuer. Zurückgelassen nach Kriegsende im „Feindesland“….. Die einheimischen Letten nahmen die „Fremden“ bei sich auf und mein Papa und seine Kameraden lebten bei diesen und hofften auf eine baldige Rückkehr nach Hause. Doch es kam anders und sie wurden von Russen als Verräter und Deserteure zusammen mit lettischen Männern in Lettland festgenommen und ins Gefängnis gebracht.
Nach einigen Monaten gelang einigen der Männer, darunter auch meinem Papa die Flucht aus dem Gefängnis und sie schlugen sich ins Landesinnere durch, wo sie von einem Tatarenstamm gefunden und aufgenommen wurden. Dort wurden sie in die Dorfgemeinschaft aufgenommen und mein Papa erzählte, dass er dort spannende Tage und Wochen erlebte: z.B: war das Essen ganz klar geregelt – gekocht wurde in der Dorfmitte auf dem Feuer für das ganze Dorf. Die Männer setzten sich mit dem Rücken zum Topf und nur der Dorfvorsteher durfte „vorwärts“ zum Topf sitzen. Dann bedienten sich alle aus dem grossen Kochtopf – der Vorsteher konnte sich leicht die grossen Stücke aus dem Topf aussuchen, die anderen mit dem Rück zum Topf bekamen was sie erreichen konnten. Die Frauen und Kinder assen getrennt.
Nach einigen Monaten wurde er wieder von den Russen aufgegriffen und als Spion und Verräter inhaftiert und nach Sibirien deportiert.
In Sibirien wurde er am Baikalsee in ein Gefängnis gebracht, und musste jeden Tag im Bergwerk arbeiten. Er war in der Zeit in der Gefängniszelle u.a. mit einem russischen Professor untergebracht und da er inzwischen die Sprache beherrschte war ein Punkt, der ihn am Leben hielt, dass er auf Russisch mit diesem Mann Mathematik „studierte“. Daneben musste er jeden Tag mehr als 400 Stufen in das Bergwerk hinunter und abends nach der Arbeit wieder hinaufsteigen. Untertags gab es Wasser und schimmliges Brot und abends meistens Suppe.
Mein Papa konnte so lange ich mich erinnern kann niemals Fisch oder Hühner- oder Putenfleisch essen – die Suppe war nämlich Wasser mit Fischköpfen und Gräten oder Hühnerköpfen und -füssen.
Immer mal wieder wurde mein Papa von den Aufsehern geholt und vor ein „Gericht“ gestellt und immer wieder zu Gefängnis als Spion und Verräter „verurteilt“.
Mein Papa erzählte seine Freilassung wie folgt: als 1955 der Staatsvertrag der Alliierten und Österreich unterzeichnet werden sollte, wurde die Forderung gestellt, den in Russland inhaftierten Direktor der Wiener Sängerknaben und einen Staatssekretär in den Gefängnissen zu suchen und freizulassen. Diese zwei waren im selben Gefängnis wie mein Papa inhaftiert und als man im Zuge der Suche nach den zwei Männern noch auf einen 3. Österreicher traf, war man ihn zusammen mit den anderen Zwei in Sibirien in einen Viehwaggon und schickte den Zug zurück nach Österreich.
10 Jahre nach Kriegsende kam mein Papa wieder zurück in seine Heimat nach Lustenau und wurde am Bahnhof empfangen.
Er kam in ein „fremdes“ Land zurück und war komplett überfordert. Inzwischen war ihm die Sprache fast fremd und die Veränderungen in den 10 Jahren Gefangenschaft liessen ihn in seiner Heimat fast verzweifeln. Unter anderem war für ihn ein grosser Schock, dass in der Kirche inzwischen der Volksaltar war und die heilige Messe auf Deutsch und nicht mehr Lateinisch abgehalten wurde. Damals war Traumabewältigung oder Hilfe ein Fremdwort. Mein Papa war oft versucht wieder zurück nach Russland zu gehen, weil er die Welt hier nicht mehr verstand, keine Freunde hier hatte und nicht wusste wie er sich in seiner Heimat zurechtfinden sollte.
Meine Mama war damals angestellt als Buchhalterin beim grössten Stickereiunternehmen Gebhard König – beim „Grober“. Ihr Chef Gebhard war der einzige, der sich sagte: Diesem Heimkehrer muss man helfen – und er veranstaltete einen Ausflug für meinem Papa mit Angestellten und Geschäftsfreunden. Da meine Mama eine der einzigen „ledigen“ jungen Frauen war, sagte ihr Chef Gebhard – sitz Du zu dem Josef, Du bist redselig und kannst gut mit ihm reden und umgehen.
Aus diesem Ausflug entstand die Liebe und unsere Familie. Im Jahr 1956 heirateten mein Papa und meine Mama und wir wohnten in der Sandstrasse bei meiner Oma. Mein Papa hatte keinerlei Ausbildung und nur dank dem Beruf meiner Mama als Buchhalterin und dem Wohnen bei meiner Oma konnten sie eine Familie gründen. Mein Papa fand in der Stickerei beim „Mussar“ in der Bahnhofstrasse eine Hilfsarbeit, sodass er wenigstens zum Erhalt der Familie beitragen konnte. Allerdings war der Lohn so niedrig, dass er mehr Geld für die Zigaretten, die er damals rauchte ausgeben musste, als er verdiente. Als meine Mama mit mir schwanger war, verlor mein Papa seine Arbeitsstelle. Trotzdem konnte er sein heissgeliebtes Auto behalten, da meine Mama zum Glück für ihre Zeit sehr gebildet war und als Buchhalter beim „Grober“ einen sehr guten Arbeitsplatz hatte.
Nach einigen harten und ungewissen Monaten fand mein Papa eine Arbeit in Bregenz in der Fabrik „UZIN“, wo Kleb- und Leimstoffe hergestellt wurden. So fuhr er jeden Tag nach Bregenz und ganz oft kam er komplett aufgelöst nach Hause – „ich habe den Russen gesehen“….. Lange Zeit wusste ich nicht was das bedeutete, bis er uns einmal erzählte, dass ihm im Gefängnis in Sibirien immer wieder eingebläut wurde, dass er ein Leben lang unter russischer Aufsicht sei und immer und überall beobachtet werde. Dies sass so tief, dass er so lange er lebte daran glaubte und immer unsicher war und sich am liebsten unsichtbar machen wollte. Nur bei unseren vielen Ausflügen mit der Familie in die Schweiz war er gelöst und fühlte er sich wohl und sicher.
Als die Firma „UZIN“ aufgelöst wurde, fand mein Papa bei der Firma Grass in Höchst eine neue Stelle, wo er bis zu seiner Pensionierung beschäftigt war.
Die Pension konnte er noch einige Zeit mit meiner Mama und meinen Geschwistern und mir geniessen, aber kurz vor seinem 70. Geburtstag starb er am 25. Mai 1993.
Mein Papa war ein Leben lang gezeichnet von seiner Gefangenschaft und trotzdem ein wunderbarer, lebensfroher Mensch, dem seine Familie über alles ging. Genau am Tag als meine Schwester 1963 geboren wurde, wurde er 40 Jahre zuvor in der Gefangenschaft in Sibirien zu 100 mal 100 Jahren lebenslänglichem Kerker verurteilt und hatte damals keine Hoffnung mehr auf ein „normales“ Leben.
Etwas ganz Wichtiges gab mein Papa mir und unserer ganzen Familie mit und lebte es auch vor – Streit und böse Worte, Unzufriedenheit und Krieg sind zerstörerisch und bringen nur Leid. Danach und damit hat er ein Leben lang gelebt und war mir dadurch ein wunderbares Vorbild.
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