Zwischenruf

von Gisela Ebmer (Wien)

Die 10-jährige Anna sitzt weinend in meiner 1. Klasse. Ein Bub aus der Dritten hat ihr zum wiederholten Mal das Haxl gestellt, sie absichtlich niedergerempelt und Kakao auf sie geschüttet.
Ein älterer Mann beauftragt seinen Neffen, seine Frau umzubringen.
Auf einem Parkplatz will eine Frau ihren Ex-Mann sein Kind sehen lassen. Er sticht sie nieder.
Die Sendung "Thema" im ORF widmet letzten Montag einen ganzen Beitrag dem Problem von gewalttätigen Männern.
Ein 13-jähriger Bub springt aus Angst vor dem Elternsprechtag in den Tod.

Ich hab das Gefühl, wir stehen als Einzelne und als Gesamt-Gesellschaft dem Problem der Gewalt oft völlig hilflos gegenüber. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man gewusst, wie man in der Erziehung damit umgeht: Der Wille des Kindes muss gebrochen werden. Alles Böse muss man aus dem Kind herausprügeln. Dann wird es brav und anständig und gehorsam. Das Ergebnis haben wir im 2. Weltkrieg gesehen.

Die Reaktion darauf war in der pädagogischen Diskussion die Liebe. Kinder brauchen Liebe und viel Freiheit, damit sie sich entwickeln können, gescheite, kreative und liebende Menschen werden. Das Ergebnis waren Kinder, die aggressiv waren, zu Drogen griffen, planlos und orientierungslos waren. Sie hatten keine starken Erwachsenen, die ihnen Halt gegeben haben. Zum Teil haben wir es mit solchen Kindern heute in der Schule zu tun. Lehrer und Lehrerinnen sind überfordert. Die Kinder gehorchen nicht, sind frech und gewalttätig. Der Ruf nach härteren Strafen wird laut. Zurück zur guten alten Zeit?

Ich habe vom israelischen Psychotherapeuten Haim Omer ein sehr schönes Bild erfahren zur Erziehung von Kindern. Kinder sind wie kleine Schiffe in einem Hafen. Sie haben einen Anker, der sie im Meeresboden verwurzelt. Am Anker gibt es eine Leine. Und je älter die Kinder werden, desto länger kann man die Leine machen. Sie können zunächst den eigenen Hafen erkunden, sie können später auch hinausschwimmen ins offene Meer. Jedes Mal ein Stück weiter. Die Ankerleine ist immer da. Wenn sie in Sturm und Not geraten, holt die Leine sie rechtzeitig zurück. Wenn sie geneigt sind, andere Boote zu zerstören oder zu wild herumzufahren, ist da die Leine, die sie aufhält. Im Hafen erleben sie Geborgenheit. Sie können alles verarbeiten, was sie erlebt haben, sie werden getröstet und versorgt, sie schöpfen Kraft für neue Abenteuer. Und irgendwann einmal gelingt es ihnen, diesen Anker in sich selbst aufzunehmen. Sie sind dann erwachsen, und sie können immer wieder neu den Anker setzen, wo sie sich auch hin bewegen. Denn sie wissen, sie sind sicher, sie tragen diese wachsame Sorge, Wertschätzung und Liebe ihrer Eltern in sich, aber auch das Wissen um die Grenzen. Vielen Menschen fehlt ein solcher Anker.

Im Alten Testament wird oft von der Schechina erzählt. Von der liebevollen Anwesenheit Gottes unter den Menschen. Es ist seine wachsame Sorge um uns. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die diese wachsame Sorge Gottes sichtbar machen. Erwachsene, die Anker sind für Kinder. Erwachsene aber auch, die anderen Erwachsenen helfen, die in gewalttätige Strukturen verstrickt sind. Menschen brauchen freie Entwicklungsmöglichkeiten und klare Grenzen, die sie und andere schützen. Wertschätzend, liebevoll, ohne Gewalt.
Eine gute Vernetzung aller Anker in unserer Gesellschaft bringt Stärke für andere. Stärke statt Macht.

Sendereihe