Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Schattenland, Ströme" - Zum 50. Todestag des Schriftstellers Johannes Bobrowski. Gestaltung: Alexandra Mantler

Als ich in den 1980er Jahren zwei Jahre in der Sowjetunion gearbeitet habe, durfte ich nie an die Memel - Sperrgebiet für Ausländer, hieß es. Umso lieber ist mir diese einzigartige Flusslandschaft im Norden Litauens, seit ich sie besuchen kann. Der deutsche Dichter Johannes Bobrowski hat am rechten Memelufer seine Kindheitssommer verbracht und dann seine spätere Frau kennengelernt. Immer wieder kreisen seine Gedichte um diese Landschaft und rufen sie auf. "Immer zu benennen", heißt eines von ihnen:

Immer zu benennen:
Den Baum, den Vogel im Flug,
den rötlichen Fels, wo der Strom
zieht, grün, und den Fisch
im weißen Rauch, wenn es dunkelt
über die Wälder herab.

In der zweiten Strophe werden Bedenken geäußert gegen dieses Spiel der Erinnerung, in der dritten belebt sich die Natur, es ist die Rede vom Schlaf der Steine, der Vögel im Flug und der Bäume. Und dann springt das Gedicht in der vierten Strophe übergangslos in eine andere Ebene:

Wär das ein Gott
und im Fleisch,
und könnte mich rufen, ich würd
umhergehn, ich würd
warten ein wenig.

Die Vorstellung des Prologs des Johannesevangeliums, dass das Wort Gottes Fleisch geworden ist, wird in den Konjunktiv gesetzt; das zentrale Thema des Christentums, die Inkarnation Gottes und dass sein Ruf an den Menschen ergeht, wird in der Möglichkeitsform herbeizitiert, aber nicht als feierlicher Schlussakkord. Denn die Konsequenz aus dieser Möglichkeit wäre: "ich würd / umhergehn, ich würd / warten ein wenig". Der Theologe Alex Stock hat ein Buch über Johannes Bobrowski geschrieben und dabei die Schlusszeile dieses Gedichts zu seinem Titel gemacht: "Warten, ein wenig". Er weist auf das offene, vieldeutige Ende dieses Gedichts hin, auf sein verhaltenes Sprechen von den intimen Dingen der Religion.

Ich mag dieses Gedicht, weil es keine religiöse Überzeugung verkündet - das hat Gedichten noch nie gut getan - aber eine Möglichkeit offenhält. Und weil es das Wort "Gott" hineinversetzt in eine Landschaft, die Fragen stellt und befragt wird. Bobrowskis archaische Landschaften sind genau gezeichnet, aber sie erschöpfen sich nicht in der Natur.

Service

Buch, Johannes Bobrowski, "Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater", Roman, Verlag Klaus Wagenbach
Buch, Johannes Bobrowski, "Die Erzählungen, Vermischte Prosa und Selbstzeugnisse", Deutsche Verlagsanstalt
Buch, Johannes Bobrowski, "Litauische Claviere", Roman, Reclam Verlag 2009
Buch, Christoph Meckel, "Erinnerung an Johannes Bobrowski", Carl Hanser Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685-1750
Album: CRISTOFORIS CLAVICHORD - JOHANNES MARIA BOGNER
* Air - 4.Satz (00:01:41)
Titel: Partita Nr.6 in e-moll BWV 830, auf dem Clavichord gespielt
Solist/Solistin: Johannes Maria Bogner /Clavichord
Länge: 02:00 min
Label: ORF Radio Österreich 1 Editi

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