Auswandererschicksale aus Marokko

Verlassen

Tahar Ben Jelloun hat ein Buch über das Auswandern geschrieben. "Verlassen" erzählt vom Warten im Schlepper-, Prostituierten- und Elendsmilieu zwischen Tanger und den spanischen Küstenstädten, von Menschen, die ihre Haut verkaufen, um sie zu retten.

September 1971 verließ Tahar Ben Jelloun die marokkanische Stadt Tanger mit dem Ziel Paris. Zu Hause war der renitente Student vom Geheimdienst König Hassans für eineinhalb Jahre in einem der berüchtigten Umerziehungslager interniert worden. Von Frankreich erhoffte er sich Sicherheit und in Ruhe sein Psychologie-Studium beenden zu können. 30 Jahre später ist mit der Regierung des neuen Königs Mohamed mehr Freiheit im Land eingezogen, aber keine wirtschaftliche Verbesserung. Aber es ist heute beileibe nicht mehr so einfach, Marokko Richtung Europa zu verlassen.

Der prominenteste Autor des Maghreb hat ein Buch darüber geschrieben. "Verlassen", so der doppeldeutige Titel, erzählt vom Warten im Auswanderer-, Schlepper-, Prostituierten- und Elendsmilieu zwischen Tanger und den spanischen Küstenstädten, von Menschen, die ihre Haut verkaufen, um sie zu retten.

Auswandern, um gestärkt zurückzukommen

Hinter den Einzelschicksalen beschreibt Tahar Ben Jelloun jene andere Globalisierung der staubigen Schuhe und verkohlten Ausweispapiere: die monatelange, entbehrungsreiche Wanderung Tausender Schwarzafrikaner nach Norden, nach Mauretanien oder Marokko, von wo aus sie ein Boot nach Europa zu ergattern hoffen. Unterwegs müssen sich die Wanderer ihren Unterhalt, manchmal auch die 1.000 oder 2.000 Euro für die Überfahrt durch kleine Jobs verdienen. Frauen bleibt oft kein Ausweg als die Prostitution.

Tahar Ben Jelloun sieht in der Migration etwas Positives: "Die 3,5 Millionen Auswanderer schicken Milliarden von Dirham in ihre marokkanische Heimat zurück, viel mehr, als Marokko durch den Tourismus oder den Export von Phosphat verdient. Aber die vielleicht noch wichtigere Rückwirkung der Migration ist die Veränderung des Frauenbildes: Die Marokkanerinnen, die in Europa leben, gefällt es, welche Freiheiten ihre Geschlechtsgenossinnen dort genießen. Sie wollen ebenfalls solchen Respekt."

Angst auf beiden Seiten

Tahar Ben Jelloun, der mit 62 seinen Hauptwohnsitz von Paris wieder zurück nach Tanger verlegt hat, beobachtet auch einen gegenteiligen Trend: Die jungen Frauen verschleiern sich wieder. Gut die Hälfte ist es inzwischen, schätzt der Autor. Mit Sorge beobachtet er, wie sich überall im Orient eine Art des Islam breit macht, die von Ressentiments gegen den Westen geprägt ist. Und im Westen treffen Muslime immer häufiger auf Ablehnung.

"Man hat auf beiden Seiten Angst voreinander", meint Jelloun. "Der Islam, wie er sich zurzeit präsentiert, macht Angst. Dieser Islam, der zu einer totalitären Ideologie wurde, genau dieser Islam macht vor allen Dingen den Muslimen selber Angst."

Der Traum vom guten Leben

Fiktionalisierte Wirklichkeit, nennt Tahar Ben Jelloun die Form, die er für seinen Roman "Verlassen" gewählt hat. Im Mittelpunkt steht der 24-jährige Azel, ein studierter Jurist. Seit für ihn feststeht, dass er in Marokko keine Chance auf einen Job hat, träumt er von dem guten Leben in Europa. Er zahlt einem Schlepper das Geld für die Überfahrt, der macht sich damit aus dem Staub. Komplett pleite, sieht Azel nun seine letzte Chance in Miguel Lopez, einem reichen spanischen Galeristen, der ihm eine Position als Bettgenosse und Hausdiener anbietet - in Barcelona.

Die Angebote von Islamisten, die, so wird es im Buch angedeutet, offenbar Migranten weltweit für ihre Zwecke rekrutieren, schlägt Azel aus. Tahar Ben Jelloun über die Propagandisten des Dschihad, die er mit den Seelenfängern von Sekten vergleicht: "Hinter ihnen steht keine Ideologie. Sie sagen den jungen Leuten nur: Tue deine Arbeit, sie ist zum Wohle der ganzen Menschheit. Und anschließend fährst du auf in den Himmel, Paradies in alle Ewigkeit. Da hilft nur Wachsamkeit und mit allen Kräften der Kultur dagegen zu kämpfen."

Aus der Anonymität geholt

Mag Tahar Ben Jellouns Roman "Verlassen" an manchen Stellen auch etwas routiniert-märchenonkelhaft geschrieben sein, über die emotionalen Untiefen des Themas selbst erfährt der Leser in dem Buch eine ganze Menge mehr als aus den üblichen Zeitungsartikeln und Kurzreportagen im Fernsehen. Die "Illegalen" Tahar Ben Jellouns sind keine bedrohliche Masse von Elendsmigranten, sie haben ein Gesicht und eine Geschichte. Das ist der Unterschied.

Service

Tahar Ben Jelloun, "Verlassen", aus dem Französischen übersetzt von Christiane Kayser, Berlin Verlag