Kirgisien im Umbruch
Der Schneeleopard
"Der Schneeleopard" ist ein gesellschaftskritischer Roman. Er zeigt ein Kirgisien im Übergang, eine Gesellschaft voller Spannungen. Vor allem aber ist er ein Roman über die grenzenlose, ewige Liebe, die erst im Tod ihre Erfüllung findet.
8. April 2017, 21:58
Arsen Samantschin ist aus einem bestimmten Grund im "Eurasia", dem teuersten Lokal der kirigisischen Hauptstadt: wegen seiner großen Liebe Aidana, die hier als Sängerin arbeitet, in letzter Zeit freilich nicht mehr viel von ihm wissen will. Der Direktor des Etablissements fordert ihn auf, das Lokal zu verlassen. Arsen gerät in Rage. Rausschmeißer packen den Widerspenstigen und verfrachten ihn in ein Taxi. Arsen ist demoralisiert und gedemütigt.
Zur gleichen Zeit streift Dschaa-Bars durchs Dickicht des Hochgebirges. Dschaa-Bars ist ein Schneeleopard, ein stolzes, großgewachsenes Raubtier.
Sein Hals mächtig und rund, der Schädel groß und wuchtig, (...) und seine durchdringenden Augen leuchten und strahlen im Schatten.
Doch Dschaa-Bars ist nicht mehr der Alte, er ist kurzatmig geworden und kann nicht einmal mehr Steinböcke jagen.
Von Arsen und Dschaa-Bars, dem Journalisten und dem Schneeleoparden, zwei Ausgestoßenen, Parias, die ihre beste Tage hinter sich und keine Zukunft mehr vor sich zu haben scheinen, von ihrer beider Schicksalen, die sich am Ende kreuzen, erzählt Tschingis Aitmatow in seinem neuen Roman "Der Schneeleopard".
Mensch und Natur
Arsen ist ein "Bergler", ein Kind der Berge, und ein "Egemen", ein Unabhängiger und Unantastbarer, dessen Lieblingswort "Wahrheit" ist. Sein großer Traum ist ein Opernprojekt, "Die ewige Braut" soll es heißen: eine Geschichte von unbedingter Liebe und ewiger Treue, die auf einer alten kirgisischen Sage basiert und "als Botschaft einer anderen Welt" gedacht ist, "als Zeichen des Mitleidens, das keine Grenzen hat". Die Titelrolle war für Aidana reserviert. Doch die hat sich dem Kommerz ergeben.
Der Kontrast zwischen Mensch und Natur, zwischen Stadt und Land, zwischen archaischen Strukturen und moderner Welt, zwischen Prinzipientreue und Profitdenken bestimmt nicht zum ersten Mal einen Roman von Tschingis Aitmatow, dessen Werke fast alle in Kirgisien spielen und dessen Natur, seine Menschen und ihre Lebensumstände beschreiben, alte Mythen, Sagen und Legenden mit aktuellen Problemen verknüpfend.
Showdown im Gebirge
Arsens Onkel Bektur organisiert für reiche arabische Prinzen eine Jagd auf Schneeleoparden. Taschafghan, ein ehemaliger Afghanistan-Kämpfer und Schulfreund von Arsen, hat von dieser Expedition erfahren und plant einen Coup. Mit Arsens Hilfe will er die Araber kidnappen und 20 Millionen Dollar erpressen.
Arsen gerät zwischen die Fronten. Er will weder der Handlanger des armen Banditen, noch der der reichen Jagdgesellschaft werden. Im Gebirge kommt es schließlich zum Showdown. Eine wilde Schießerei entbrennt. Arsen und Dschaa-Bars werden tödlich getroffen. "Es war, als ob sie nun ein Paar bildeten" - der sterbende Mensch und das wilde Tier -, schreibt Aitmatow.
Unbedingte Liebe
"Der Schneeleopard" ist ein gesellschaftskritischer Roman. Er zeigt ein Kirgisien im Übergang, eine Gesellschaft voller Spannungen, geprägt von einem krassen Stadt-Land-Gefälle; ein "präkapitalistisches System", wie Aitmatow sagt, wo rücksichtslose Geschäftemacherei und neureiche Präpotenz auf bittere Armut und Perspektivlosigkeit stoßen.
Vor allem aber ist "Der Schneeleopard" ein Liebesroman - bzw. ein Roman über die Idee der unbedingten Liebe. Nachdem Arsen die Hoffnungen auf ein Happy-end mit Aidana aufgeben muss, findet er zuletzt doch noch die große Liebe. Die Begegnung mit Elesa wird für ihn zu einer Offenbarung. Pathetisch wird das unverhoffte Glück beschrieben.
Der Himmel schmiegte sich an sie beide und ergötzte sich an ihnen. Virtuell waren sie schon nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern schwebten im Schwindel erregenden und unendlichen Kosmos. (...) Die Blumen im Kreis um sie neigten sich rücklings im heftigen Wind und erstarben gebändigt in weicher Harmonie. Die ganze Natur nahm an ihrer Liebe Anteil.
Schicksal und Erlösung
"Wenn Berge einstürzen. Die ewige Braut", wie die wörtliche Übersetzung des Originaltitels von Aitmatows jüngstem Roman lautet, ist die Paraphrase eines tief romantischen Konzepts von Liebe und Treue, das erst im Tod seine Erfüllung findet. Durch Elesa wird Arsen von seinem Paria-Dasein erlöst, in ihr findet er schließlich doch noch seine "ewige Braut", die seinen Idealismus bewahren und weitertragen wird.
Und so macht Tschingis Aitmatow in "Der Schneeleopard", einem nicht immer spannenden, von reichlich schwülstiger Liebesrhetorik gesättigten Roman, in dem fast pausenlos auf eine nebulöse Weise vom "Schicksal" die Rede ist, aus seinem Helden am Ende selbst eine Legendenfigur, erhaben wie der Schneeleopard und fantastisch wie die ewige Braut.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 20. April 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 22. April 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Tschingis Aitmatow, "Der Schneeleopard", aus dem Russischen übersetzt von Friedrich Hitzer, Unionsverlag, 2007, ISBN 978-3293003705