Ein Bericht vom 9. Ernst-Mach-Forum
Geisteswissenschaften
Was würde einer Gesellschaft ohne Geisteswissenschaften abgehen? Wäre unsere Zukunft ohne Spezialkenntnisse über den frühen Fontane oder das Chorgestühl zu Hildesheim ernsthaft gefährdet, wie die FAZ einmal etwas hämisch fragte?
8. April 2017, 21:58
Sie erzeugen zwar keine Patente und heilen keine Krankheiten. Eine unverzichtbare Kompetenz der Geisteswissenschaften wird aber auch in Zeiten ihres häufig festgestellten Bedeutungsverlustes durchwegs anerkannt: Sie liefern wesentliche Grundlagen für das Verständnis unserer Welt.
"Sie bewahren, erweitern und vermitteln je von neuem das Wissen über die eigene Sprache, Geschichte, Literatur und Kunst; über die Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens und Zusammenwirkens von Menschen in einer Gesellschaft (Recht, Ökonomie, Soziologie); über die Selbstvergewisserung und die Beantwortung der Sinn- und Identitätsfrage der Menschen (Philosophie, Theologie, Psychologie)", stellt der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde programmatisch fest.
Im Schatten der Naturwissenschaften
Im Wettbewerb mit den boomenden Naturwissenschaften, vor allem mit den ständig neue Schlagzeilen produzierenden Biowissenschaften, haben die Geistes- und Kulturwissenschaften aber in der gesellschaftlichen Wahrnehmung deutlich an Stellenwert verloren. Auch wenn ihre grundsätzliche Stellung an den Universitäten vielleicht weniger gefährdet ist, als es das seit langem anhaltende Krisengerede und die manchmal übertrieben wirkenden Klagen über den eigenen Statusverlust vermuten lassen.
Krisensymptome wie die Streichung von Planstellen und Studiengängen, schlechtere Chancen im Wettbewerb um Förderungen und Drittmittel stehen aber sicher in einem Zusammenhang mit der dominierenden hochschulpolitischen Rhetorik, die dem Ideal einer "unternehmerischen Universität" huldigt. Aus der Wirtschaft entlehnte Effizienz- und Leistungskriterien erscheinen im gegenwärtigen Trend wichtiger, als das Ideal der Universität als Ort der wissenschaftlichen Bildung, die zu Reflexion und fundierter Aufklärung befähigt.
Selbstkritik statt Selbstmitleid
Andererseits haben in jüngster Zeit erfrischend selbstkritische Stimme aus den Reihen der Geisteswissenschaften die Debatte auch durch den Hinweis auf eigene Schwächen und Defizite belebt. Zum Beispiel die hohe Spezialisierung vieler Fächer, die wichtige von unwichtigen Dingen nicht mehr unterscheidet und deshalb von der Gesellschaft mit Desinteresse abgestraft wird. Oder die fehlende Bereitschaft, die eigenen Ideen und Modelle in verständlicher Sprache und öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, um damit ernst genommen zu werden und neue Interessenten anzusprechen.
Der in Essen lehrende Kulturwissenschaftler Harald Welzer fordert deshalb, dass auch die Geistes- und Kulturwissenschaften ihre gesellschaftliche Rechtfertigungspflicht wahrnehmen sollten. Eine Pflicht, der nicht bereits "dadurch Genüge getan ist, dass man sich auf Traditionen beruft, die schon seit Humboldts, wenn nicht gar seit Platons Zeiten gelten".
Ende der Bescheidenheit
Gefragt sind vielmehr robuste Konzepte und Programme, "die dem harten Druck der Wirklichkeit standhalten und sich durch ihre gesellschaftliche Relevanz auf dem Wissenschaftsmarkt behaupten können". Ohne deshalb einer weiteren Ökonomisierung der Hochschulen das Wort zu reden, fordert Welzer die Besinnung auf die singulären Leistungen und Potenziale der Geisteswissenschaften und damit verbunden ein "Ende der Bescheidenheit".
Geisteswissenschafter sollten sich nicht als "verwertungsferne Reflexionsmandarine" vor aktuellen Themen verstecken, sondern offensiver in die (politischen) Debatten der Gegenwart einmischen.
Robustes Wissen ist gefragt
Die Probleme einer globalisierten Welt wie Klimawandel, Migration und neue Ressourcenkonflikte, aber auch Fragen des Zugangs zur Bildung und des neuen Altersaufbaus der Gesellschaft würden genügend Anlässe bieten, nicht nur das Kritik-, sondern auch das Lösungspotenzial der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sichtbar zu machen. Neue Wissenskulturen, die mit dem Internet und digitalen Massenmedien verbunden sind, widersprechen dem antiqiuerten Image des Gelehrten, würden aber umso mehr von geisteswissenschaftlichem "Know-how" profitieren.
Gefragt ist damit aber nicht nur ein Ende der Bescheidenheit, sondern ein robusteres Selbstverständnis und der Mut wieder "auf’s Ganze" zu gehen, wie die Wiener Philosophin Cornelia Klinger meint: Sich nicht hinter der Beliebigkeit der Fachwissenschaften zu verschanzen, sondern, auch im Dialog mit anderen Wissenschaften, den Problemen wieder ins Auge zu sehen, denen "immer noch und immer wieder die ganze Gesellschaft zugrunde liegt".
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 19. April 2007, 19:05 Uhr
Ein Bericht vom "ernst mach forum 9" zum Thema "Geisteswissenschaften: Schlüsselqualifikationen für Demokratische Gesellschaften?"
Veranstaltet von der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW, den Wiener Vorlesungen und der Ö1 Wissenschaftsredaktion.
Buch-Tipp
Ludger Heidbrink, Harald Welzer (Hrsg.), "Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften", Verlag C.H. Beck, ISBN 9783406559549
Link
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Wiener Vorlesungen