Eine Beziehungsgeschichte
Mein Fernseher und ich
Ich sehe fern und habe damit kein Problem. Manche Leute behaupten, das sei Zeitverschwendung. Finde ich nicht. Nicht fern zu sehen zeugt von Ignoranz und kultureller Kurzsichtigkeit. Finde ich. Und Fernseher können wahre Freunde sein.
8. April 2017, 21:58
Vor einigen Tagen habe ich meinen kaputten Fernseher bei der Problemstoffsammelstelle in Wien Ottakring abgeliefert. Als ich ihn gemäß der Anweisung eines ungeduldig wie ein Verkehrspolizist mit den Armen in der Luft rudernden Mitarbeiters der MA 48 zu den anderen Fernsehleichen in eine Art Käfig legte, fühlte ich mich wie jemand, der seinen treuen alten Rauhaardackel im Tierheim abgibt, weil er sich einen flotten jungen Irish Setter zugelegt hat.
Ich stieg ins Auto, schaute nicht mehr zurück, fuhr los, hörte, wie mir schien, ein fernes, heiseres Piepsen aus dem Kathodenstrahlschlauch des schmählich im Stich gelassenen Freundes vergangener Tage, und geriet dann vor der Stadthalle in eine Gruppe hysterischer Jugendlicher, die auf Tokio Hotel warteten. Das geschah mir Recht!
Fast zwei Jahre lang hatte ich mich nicht von diesem schwarzen Würfel mit eingebautem Videorecorder trennen können, der als nutzlos gewordener Elektroschrott in einer Ecke meines Schlafzimmers gehockt war und mich mit seiner erloschenen Mattscheibe anglotzte, wenn ich im Bett lag und einzuschlafen versuchte. Und wenn ich morgens aufwachte. Wenn ich allein war oder zu zweit, krank, müde, schlaflos, lesend. Einfach immer.
Dem Blick konnte ich nie lange standhalten, diesem leeren Blick, zu dem nur eine erloschene Bildröhre fähig ist, in dem sich allerdings, wenn ich ihn doch länger erwiderte, so viel Vergangenheit spiegelte. Die Jahre meiner früheren und auf dramatische Weise zu Bruch gegangenen Beziehung zum Beispiel, als der damals noch bildersprudelnde Fernseher ein tauglicher Abendunterhalter war. Wenn das Paar zu müde fürs Kino war oder einfach zu faul um auszugehen, schaute es sich alles an, was ihm geboten wurde, von "Derrick" bis zum Fußballspiel, von den "Simpsons" bis zu "Wetten, dass...". Oder all die Filme, die er mir spätnachts aufs Videoband kopiert hat, "Citizen Kane" und "1900" und "Apocalypse Now" und "Freaks" und "Es war einmal in Amerika". Manchmal saß ich auch nur vor ihm, schweigend, und schaute mir selbst in der Spiegelung der Mattscheibe beim Schweigen zu.
Ich habe ihn durch Stiegenhäuser geschleppt und vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer und vom Schlafzimmer in die Küche, ich habe mich tausendmal über das schlechte Bild geärgert, als ich statt über einen Kabelanschluss bloß über eine Zimmerantenne verfügte, die ich beinahe täglich in eine neue Position bringen musste.
Ich finde, kein Gerät im Haushalt nimmt so sehr Züge eines lebenden Wesens an wie ein Fernseher. Er ist der Freund, der immer zu einem spricht. Und selbst wenn man seine Geschichten nicht mehr hören kann, weil man sie schon so oft gehört hat, oder weil sie einen schlichtweg nicht interessieren, wirft man ihn nicht einfach aus der Wohnung. Man hat Nachsicht mit den Marotten alter Freunde.
Nun treffe ich immer wieder auf Menschen, für die zum Selbstbild des Intellektuellen der Verzicht eines Fernsehers gehört. Sie werden nicht müde zu betonen, dass sie dieses und jenes nicht kennen, weil sie ja keinen Fernseher zu Hause haben. Abgesehen davon, dass eine kritische Haltung zur Gesellschaft, zur Kultur, zur Politik gar nicht möglich ist, wenn man sich der medialen Präsentation und Rezeption derselben verweigert, ist jede Art der kulturellen Selbsterhöhung durch demonstrative Ablehnung von Massenmedien lächerlich. Wer ausschließlich Bücher liest, verpasst die Gegenwart, in der er lebt. Wer die Augen vor dem Banalen verschließt, wird nie in der Lage sein, die Zeit, in der er lebt, zu begreifen.
Der Witz beim Fernsehen ist ja gerade das Erkenntnispotenzial, das die scheinbar sinnlose Informations- und Unterhaltungsvermüllung birgt. Ich habe keine Berechtigung, den Zustand der Gesellschaft, in der ich existiere, zu analysieren oder gar zu kritisieren, wenn ich nicht weiß, wer Florian Silbereisen ist, wer in den Nachmittagstalkshows sich worüber erregt oder wie ein durchschnittlicher Fernsehfilm im Hauptabendprogramm dramaturgisch funktioniert. Von den Speckhüften der Wettermoderatorin bis zur Oberschenkelinnenseite der so genannten "Kulturlady" erzählt jedes ins Bild gerückte Detail von der Herde, die um mich herum vom dürren Gras des Geistes knabbert und so tut, als ernähre sie sich bewusst und ausgewogen. Und weil ich weder die Einsiedelei noch die Revolution zu leben bereit oder imstande bin, nenne ich die Herde im Stillen dumm und ziehe dennoch mit ihr über die Prärie. Wie übrigens auch jene, die keinen Fernseher zu Hause haben. Die wissen am allerwenigsten, wie ihnen geschieht.
Mein neuer Fernseher ist ziemlich groß und kann sehr viel. Er ist kein liebenswürdiger Wohnungsgenosse, wie es der alte war, schon eher kann man ihn einen Angeber nennen, der seinen fixen Platz beansprucht, nicht mehr von einem Zimmer ins andere transportiert werden kann und beim Wort "Zimmerantenne" sofort Bildflimmern bekommt.
"Was machst du mit dem Ungetüm?", fragte mich kürzlich eine Freundin, die schöne Gedichte schreibt und nie auch nur eine Zeitung liest, weshalb sie niemanden außer sich selbst kennt. "Wir unterhalten uns", antwortete ich. "Ich drücke auf die Tasten der Fernbedienung und er erzählt mir, wenn ich nicht schlafen kann, alles über dich und mich und all die anderen."
Es ist schön, jemanden an seiner Seite zu haben, der einen nicht belügt, finde ich. Gut, intelligentes Fernsehen wird es nie geben, insofern ist dieses Medium ein einziger Blondinenwitz. Aber es gibt auch keine intelligente Gesellschaft, bloß intelligente Individuen. Es gibt keine intelligente Politik, sondern bestenfalls sinnvolle Maßnahmen. Und es gibt keine intelligente Kultur, sondern nur das eine oder andere geistvolle Kunstwerk. Wenn man das alles weiß, ist das Leben inklusive der "Krone der Volksmusik" doch ganz erträglich.