Globalisierung am Beispiel Baumwolle
Weiße Plantagen
Baumwolle ist ein Rohstoff, von dem Menschen bis heute abhängig sind. Auf seiner Reise ins Reich des "Weißen Goldes" besuchte Erik Orsenna Plantagen und Textilfabriken in der ganzen Welt und zeigt in seinem Buch die Mechanismen der Globalisierung auf.
8. April 2017, 21:58
Érik Orsenna, der vor drei Monaten in Berlin den Ulysses-Award für die Kunst der literarischen Reportage erhalten hat, ist auf Mission. Es gilt, die Menschen an die bitteren Realitäten der Globalisierung heranzuführen - das Thema seines neuen Buches "Weiße Plantagen".
"Westeuropa kommt mir heutzutage vor wie das Land der verwöhnten Kinder. Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse", stellt Orsenna fest. "Vielleicht steht dahinter der Traum, wir seien immer noch die Besten, die Privilegierten. Aber das sind wir nicht mehr. Jetzt ist es so, die Armen der Welt wollen ihren Teil des Wohlstandes. Das heißt: Wir müssen endlich aufhören zu lamentieren und wieder anfangen zu arbeiten."
Anekdote aus China
Der bald 60-jährige Wirtschaftswissenschaftler, der Redenschreiber und Kulturberater Francois Mitterands war und heute die Präsidentschaftskandidatin der Linken, Ségolène Royal, berät, vibriert vor Energie. Er wettert gegen die 35-Stunden-Woche, die in Frankreich unter der sozialistischen Regierung Jospin eingeführt wurde und gegen die gleichzeitig wachsende Verschuldung seines Landes. In diesem Zusammenhang erzählt er gerne eine Anekdote, die er von einer Reise nach China mitgebracht hat:
"Ich fragte einen Chinesen, der sechs Jahre lang in Paris gelebt hatte, was ihm als stärkster Eindruck von seinem Aufenthalt dort in Erinnerung geblieben sei. Er antwortete, dass Frankreich seine Kinder nicht liebt. Warum, wollte ich wissen. Und er nannte als Grund: Ein Land, das sich derart verschuldet, liebt seine Kinder nicht."
Unterstützung für Mali
Der Bretone Orsenna liebt es, unterwegs zu sein - entweder in politischer Mission oder als Reporter. Meist beides gleichzeitig. Immer wieder führt ihn sein Weg nach Afrika. Auf seiner zwei Jahre dauernden Tour zum Thema Baumwolle machte er unter anderem in Mali und Burkina Faso Station.
In beiden Staaten stürzt die fortschreitende Globalisierung Baumwollanbauer und -verarbeiter in eine wirtschaftliche Krise. Die Gründe sind einerseits die Subventionen, mit denen Amerika und Europa ihre Märkte konkurrenzfähig halten und die überwältigende Marktmacht des Billigproduzenten China andererseits.
Mali, das von der Weltbank unter Druck gesetzt wird, seinen Baumwollmarkt für die Konkurrenz zu öffnen, muss unterstützt werden, findet Erik Orsenna. Und benutzte dazu seine weiterhin guten Beziehungen zum Elysée-Palast. Und siehe da: Es gab Geld und grünes Licht für die Gründung einer virtuellen Universität zur Schulung der bäuerlichen Elite Westafrikas in Sachen Marketing.
Eigenwilliger Stil
Der Leser ahnt, dass er hier nicht das Buch eines einfachen Autors in der Hand hält, denn dem würden nicht so ohne weiteres Interviews mit Honoratioren in Usbekistan, Brasilien, China, Ägypten, Mali und den USA gewährt.
Dass der Autor Orsenna weniger überzeugt als der Vortragende Orsenna, liegt an seinem merklichen Bemühen um Stil. Seine Art der Poetisierung verleiht manchen Schilderungen eine seltsame Unschärfe. Gelegentlich wirkt sie auch unfreiwillig putzig; zum Beispiel wenn der Autor bei einer Fahrt entlang des Nils ausruft: "Ja, selbst durch das Zugfenster spüre ich die ruhige Selbstsicherheit und Autorität des Wassers: Ich komme vom Nil, ich bin der Nil."
Berechtigte Angst vor China
Die spannendsten Eindrücke hat Orsenna aus China mitgebracht. Zu Recht habe der Westen Angst vor China, konstatiert der Autor, denn das Land verfügt nicht nur über ein schier unerschöpfliches Heer billiger Arbeiter, sondern auch über ausgesprochen motivierte Studenten.
"Die Chinesen arbeiten derart viel, dass sie überall vorne sind", stellt Orsenna fest. "Bei ihnen gibt es so etwas wie einen Kult der Arbeit, bei uns einen Kult der Freizeit. Dabei wird es keinen Fortschritt geben ohne mehr Arbeit. Eine Zivilisation der Freizeit ist eine Zivilisation, die zum Untergang verurteilt ist."
Zeit der Umbrüche
Das Interessanteste an Orsennas Globalisierungsreportage am Beispiel des weltweiten Baumwollgeschäfts sind die Neuigkeiten. Vieles, was er auf seinen Recherchen zutage fördert, kennt man nämlich so noch nicht: brasilianische Laborversuche, Spinnengene und Milch in das Erbmaterial der Baumwolle zu integrieren, um sie elastischer zu machen. Oder dass die Socken für nahezu alle Welt im chinesischen Datang in Heimarbeit gefertigt werden.
"Wir leben in einer Zwischenzeit", meint Orsenna zum Abschluss, "kommen aus einer Welt der kleinteiligen Politik und Wirtschaft und steuern auf eine völlig globale Welt zu. Ich prognostiziere, die nächsten Jahre werden kein Zuckerschlecken. Ich bin mir sicher, sie werden extrem chaotisch, so chaotisch, wie es immer in Zeiten großer Umbrüche auf der Welt zuging."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Érik Orsenna, "Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisiserte Welt", aus dem Französischen übersetzt von Antoinette Gittinger und Uta Goridis, C. H. Beck Verlag, ISBN 978-3406559174