Osterbericht eines Literaturmenschen

Bücher und Ostereier

Von fatalen Kindheits-Erfahrungen bleibt niemand verschont. Und sie prägen uns unser Leben lang, wie wir seit Sigmund Freud wissen. Doch welcher tief-dunkle seelische Urgrund ist es, der einen Menschen zum Bücherleser macht?

Vor langer Zeit, da glaubte man ja an den Osterhasen. Und das hat sogar funktioniert: Immer gab's zu Ostern bunt bemalte Ostereier zu finden. Wo, das hat übrigens variiert. Manchmal waren sie daheim in der Wohnung versteckt, andere Male auch in Großmutters Garten auf dem Land. Aber das war egal. Die Erwachsenen wussten, welches Ambiente der Osterhase jeweils bevorzugt hatte.

Heute wundert mich ein wenig, dass ich mich damals nicht wunderte, woher die Erwachsenen das wussten. Die Erwachsenen wussten auch immer, wann alle versteckten Ostereier eingesammelt waren und sich trotz hartnäckiger Suche keine weiteren mehr finden würden. Auch das hat mich in jenen naiven Zeiten nicht erstaunt. Die Erwachsenen wussten eben alles.

Indes waren die bunten Ostereier dabei nicht gar so rasend interessant. Sie waren ganz hübsch, doch dafür hatte ich damals wenig Sinn. Unter den vielen bunten Normaleiern fanden sich freilich immer auch ein paar Schokoeier. Die waren das eigentlich und einzig Spannende.

Ich weiß, es gab andere Zeiten, und es gibt andere Orte, aber ich bin eben zu einer Zeit und einem Ort aufgewachsen, wo Eier kein Problem darstellten. Sie waren einfach da. Es war keine Schwierigkeit, an ein Ei zu kommen, wann immer man eines wollte. Hingegen war Schoko echt Mangelware. Mein Vater ist Mediziner und meine Mutter sehr streng erzogen. Beide vertraten rigoros den Standpunkt: Schoko zerstört die Zähne. Das ging so weit, wie ich durchaus mitbekam, dass diverse Omas und Opas, Tanten und Onkeln ersucht wurden, den Kindern doch bitte nicht Schoko mitzubringen.

Vielleicht hatten meine Eltern ja auch Recht. Meine Zähne sind, sonstige Leiden außen vor, bis zum heutigen Tag ganz gut. Sicher besser, als die Zähne meines Vaters, als er so alt war wie ich heute. Wahrscheinlich hat er als Kind zu viel Schoko gegessen.

Übrigens hindert ihr damaliger Standpunkt meine Eltern heute, wo sie selbst Großeltern sind, mitnichten daran, ihre Enkel, nämlich meine Kinder, mit Schoko nur so zu überhäufen. Es scheint sich die alte These zu bestätigen: Der Mensch macht an seinen Enkeln gut, was er an seinen Kindern verbockt hat.

Schoko war jedenfalls in jenen Tagen, als ich an den Osterhasen glaubte, ein knappes Gut und faktisch waren die wenigen Schokoeier unter den vielen normalen Ostereiern die eigentliche Attraktion. Sie waren die Goldnuggets unter den Sandkörnern der Normaleier.

Das alles hatte Folgen. Meine heutige Leidenschaft für Schoko ist fraglos auf jene Kindheits-Erfahrungen zurück zu führen.

Ich bin an sich als braver Esser bekannt. Mit einem guten und reichlichen Essen kann man mich immer locken. Bei meinem leptosomen Körperbau kann ich mir das leisten. Wenn auch, das hinzu gefügt, der Magen nicht mehr so mitspielt.

Bei Schoko allerdings schlage ich über alle Stränge. Halten Sie mir eine Tafel Schoko vor die Nase, und sie haben mich in der Hand. Ich bin fast so etwas wie ein Schoko-Junkie. Fehlt im Hause Schoko, richtet sich mein gesamtes Denken und Fühlen nur noch auf den ersehnten Stoff. Ohne Frage ist das den bitteren Erfahrungen meiner Kindheit zu verdanken.

Sie werden sich, wenn Sie bis hierher vorgedrungen sind, nun vielleicht fragen: Wozu erzählt er uns das alles? Ist er jetzt endgültig altersblöd und sentimental geworden, dass er mit diesem Kindheitszeug daher kommt? - Ich kann nicht einmal ausschließen, dass diese Frage berechtigt sein könnte.

Der offizielle Grund ist aber ein anderer, und darauf will ich hinaus. Jene fatale Kindheits-Schoko-Mangel-Prägung macht mir meinen heutigen Job als Literaturkritiker überhaupt erst möglich - nämlich erträglich: Ich bin's gewohnt, und nicht nur gewohnt, es scheint mir geradezu unumgänglich und naturgegeben, dass man viele gewöhnliche Eier suchen muss, um einige wenige Schokoeier zu finden. Bei Büchern ist es nämlich genau so: Man muss eine enorme Zahl von Büchern lesen, damit einige wenige Schoko-Bücher dabei sind.

Wer gegenüber geringen Erfolgsraten nicht stoischen Gleichmut aufbringt, wer ungeduldig wird, wenn die Trefferquote einmal sinkt, kann sicher kein Bücherrezensent und kein Literaturmensch, ja nicht einmal ein gewohnheitsmäßiger Leser werden. Jedenfalls nicht lange: Nach kurzer Zeit würde er - oder sie - schwer depressiv. Ein Bücherleser kann nur sein, wer an Misserfolg nachhaltig gewöhnt ist. Ja, ich möchte behaupten, ihn insgeheim, unterbewusst sogar anstrebt.

Wenn Sie also einen Bücherleser oder gar einen beruflichen Buchmenschen kennen lernen, gehen sie davon aus: Das ist jemand, für den die Enttäuschung das Lebensprinzip darstellt. Darstellen muss. Verzeihen Sie ihm manches, was sie anderen erfolgsverwöhnteren Menschen vielleicht nicht verzeihen würden. Denken Sie daran: Es waren die seltenen Schokoeier, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist.

In diesem Sinne wünsche ich einen schönen Ostermontag.