Ulysses in Moskau
Moscoviada
Juri Andruchowytsch Erfolgsroman "Moscoviada" ist eine wüste Fantasmagorie, ein surrreales Schauermärchen, ein groteskes Panoptikum, das das Leben als Delirium zeigt, als Halluzination eines Trinkers und Fiebertraum eines Russland-Hassers.
8. April 2017, 21:58
"Das Trinken ist ja eine Art des Reisens!", meint Otto von F., dem Alkohol ergebener Dichter. "Eine Reise durch die befreiten Hemisphären des Bewusstseins und somit des Seins. Eines wunderbaren, verregneten Maientages, also heute, geriet ich in leicht umnachteten Zustand in die Unterwelt". Wie es dazu kam, wie Otto von F., der müde, lustlos und apathisch wirkende junge Mann aus der Ukraine, der in einem Moskauer Wohnheim lebt und am Maxim-Gorki-Literaturinstitut das Handwerk des Schreibens lernen will, in die Hölle Moskaus gelangte, das beschreibt der Roman "Moscoviada".
Ein Tag im Leben des Otto von F.
"Moscoviada", Juri Andruchowytschs erstmals 1993 veröffentlichter, jetzt auf Deutsch erschienener Erfolgsroman, ist eine Art literarischer Geisterbahnfahrt, ein Streifzug durch das "von Fäulnis befallene Herzen des nur noch halb existenten Imperiums", der vom obersten Stock eines Studentenwohnheims bis in die Tiefen der Moskauer Kanalisation führt, erlebt von einem desillusionierten Dichter aus der Provinz, der, hin- und hergerissen zwischen Kleinmut, Größenwahn und Ressentiments, von hehren Poetenträumen zu düsteren Politalpträumen gelangt, inklusive Könige, Gespenster und KGB-Schergen.
Juri Andruchowytsch, der von 1989 bis 1991 selbst am Maxim-Gorki-Institut studierte und, wie sein Held, aus der Westukraine stammt, beschreibt in "Moscoviada" einen Tag im Leben des Otto von F. Er beginnt recht vielversprechend mit einem Liebesakt unter der Dusche, führt in eine gigantische Bierbar, wo Otto eine beifallsumtoste Brandrede hält "für die völlige und endgültige Loslösung der Ukraine von Russland", und dann zu einem überfüllten Imbiss, wo Wladimir Schirinowski "gerade sein Dörrobstkompott austrinkt" und ein Manisch-Depressiver den "Helden" in ein konspiratives Gespräch verwickelt, bevor er mit einer Granate den Imbiss in die Luft sprengt.
Tiraden gegen Moskau
Dazwischen Rückblenden und Träume: Sie erzählen, wie Otto mit dem ukrainischen König Olelko II. zu Abend speist, handeln von einem Mitbewohner, der bei dem Versuch, eine Flasche Wodka zu organisieren, vom siebten Stock des Wohnheims stürzt, berichten vom erpresserischen Anwerbeversuch des KGB, der Otto als Spitzel gewinnen will, und schildern die handfesten Auseinandersetzungen mit Ex-Frau Galja, einer Schlangenfängerin, die sich ihm später mit einer Spritze nähert, die Otto in eine Pflanze verwandeln soll.
Natürlich immer wieder Tiraden gegen Moskau, die "verbrecherische Hauptstadt", die "Stadt der Verluste", die es dem Erdboden gleichzumachen gelte, die "Stadt der tausendundeinen Folterkammern", "der vollgekotzten Hinterhöfe und der windschiefen Bretterzäune", "die Stadt der Konzentrationslager, wo die Spitzen versteinerter Giganten den Himmel ins Visier nehmen".
Der Geist von BuBaBu
"Moscoviada" sei eine Art literarischer Collage, sagt Juri Andruchowytsch: eine Collage aus Zitaten, Anspielungen und literarischen Topoi, mit Höllenfahrt und Maskenball und Zigeunerbaron, ein Mix aus Ich-Erzählung und Du-Anrede, aus derben Sprüchen, altertümlichen Wendungen und hochgestochenem Poetenton, mit Referenzen an Volkshelden, Gaunerkönige oder Dichter - wie Wladimir Wyssozki oder Juri Andruchowytsch selbst; ein Roman, der das Prinzip der Übertreibung feiert - und ein Spiel mit der Fiktionalisierung treibt. Eine wüste Suada getragen von dem Geist von BuBaBu - jener von Juri Andruchowytsch Mitte der 1980er Jahre gegründeten literarisch-karnevalesken Performance-Gruppe "Burlesk-Balagan-Buffonada".
"Moscoviada", das ist so etwas wie ein Synonym für das Streben nach Unabhängigkeit und für ukrainischen Selbstbestimmungswillen, für die wütende Abrechnung mit dem Postkommunismus und den Popanzen der Vergangenheit.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Juri Andruchowytsch, "Moscoviada", aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr, Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3518418260